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Mittwoch, 17. Mai 2017

Orhan Pamuks Museum der Unschuld in Istanbul

Das rostrot gefärbelte Haus links fand Orhan Pamuk auf seinem täglichen Weg, den er mit seiner Tochter zur Schule zurücklegte. Es ist so klein, daß man die Eintrittskarte auf der Straße kauft, die einem durch ein vergittertes Fenster (dort wo die Tafel steht) gereicht wird. Für die Einheimischen ist es inzwischen "Füsüns Haus"...

Gottfried Fliedl Das Museum der Unschuld

1
Die Bekanntheit des Istanbuler Museum der Unschuld verdankt sich sicher der Prominenz seines Schöpfers, des Schriftstellers und Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Aber sein Museum ist weit mehr als ein weiteres Autorenmuseum, das seine Besonderheit der Kreativität und Phantasie einer einzelnen Person verdankt. Das Museum der Unschuld hat als Experiment begonnen, die herkömmlichen Strukturen der Institution durcheinander wirft. Es ist ein work in progress, Pamuk arbeitet an ihm ständig weiter, läßt dokumentarische Filme drehen, betreibt eine Facebook-Seite, hat ein kommentierendes Buch geschrieben, gibt zahllose Interviews und veröffentlicht und bastelt ständig an einer theoretischen Kommentierung weiter.
Grundlage des Projektes ist der dem Museum gleichnamige Roman, eine Liebesgeschichte. Der aus gutbürgerlichem Haus stammende Kemal lernt bei der Suche nach einem Geschenk für seine anstehende Verlobung mit Sibil eine Studentin kennen, die als Verkäuferin arbeitet. Die entstehende leidenschaftliche Beziehung kann Kemal nicht davon abhalten, die Verlobung mit Sibil zu feiern. Füsün verschwindet und Kemals leidenschaftliche Sehnsucht treibt ihn durch Istanbul auf der Suche nach ihr, die etwa ein Jahr dauert. Er trifft sie, die inzwischen verheiratet ist, von nun an in ihrer Wohnung, um der Wahrung gesellschaftlicher Konvention willen aber immer nur in Begleitung. Fast acht Jahre lang und bis zu viermal in der Woche teilt er mit ihr und Verwandten den Alltag.
Ausschnitt aus dem Stadtplan von Istanbul mit all jenen Orten, an denen Kemal auf seiner Suche nach Füsün sie zu sehen glaubte

Gleich nahe dem Eingang des Museums: Das Tableau mit den aberhunderten Zigarettenstummeln Füsüns
In dieser Zeit beginnt Kemal die Unerreichbarkeit seiner Geliebten fetischistisch zu kompensieren. Er sammelt und stiehlt gelegentlich sogar alles, was mit ihr in Berührung gekommen ist, und wenn es die – schließlich über viertausend - Stummeln der von ihr gerauchten Zigaretten sind. Als Besucher des Museums werden wir sie im Eingangsbereich als Tableau finden - fein säuberlich mit Hand beschriftet.
Die Ehe von Füsun löst sich langsam auf und die formelle Scheidung ermöglicht Kemal und Füsun an eine Wiederaufnahme ihrer Beziehung und an Heirat zu denken. Gleich am Beginn ihrer Hochzeitsreise kommt es zu einem Autounfall, bei dem Füsun stirbt und Kemal schwer verletzt wird.
Um zu genesen und um zu verarbeiten reist er und lernt Museen kennen, kleine Museen, das heißt für ihn, Museen kleiner Leute, die nicht in die große Geschichte und Politik involviert sind und insofern „unschuldig“. Er entdeckt, daß seine Sammlung das Potential hat, ein solches „unschuldiges Museum“ zu werden. „Ich begriff nun, dass das wahre Haus eines echten Sammlers sein eigenes Museum sein musste.“ 


"...das wahre Haus eines echten Sammlers..."
Und, inzwischen zwanzig Jahre nach seiner Genesung, beauftragt er einen ihm bekannten Schriftsteller, Orhan Pamuk, der seinerzeit schon Gast bei der Hochzeit Kemals mit Sibil gewesen war, die Geschichte der Liebesbeziehung zu Füsun aufzuzeichnen.
In den letzten Abschnitten des Romans wird also einerseits rückblickend erläutert, wie es zu dem Buch gekommen ist und vorausblickend, daß es als Erzählung Grundlage eines Museums werden wird, ja sogar wörtlich ein „Katalog“, in dem sogar schon eine Eintrittskarte abgedruckt ist.
Ursprünglich wollte Pamuk das Erscheinen des Buchs mit der Eröffnung des Museums zeitlich zusammenfallen lassen, es war von Anfang an ein Projekt, das durch verschiedene Lebensumstände zeitlich auseinandergerissen wurde.

2
Die Spiegelung im Buch - ein Roman entpuppt sich als museale Erzählung, die in der Realisierung des Museums fortgeführt und vertieft wird – wird durch das Museum noch komplizierter. Was als Roman Fiktion ist, aber wie eine dokumentarische Aufzeichnung eines tatsächlich gelebten Lebens zur Grundlage der Ausstellung wird, wird im Museum durch die Objektesembles definitiv beglaubigt. Das Museum legt uns mit den ausgestellten konkreten Dingen nahe, daß hier eine Wahrheitsgeschichte erzählt wird. Im obersten Stockwerk wird diese „Authentifizierung“ auf die Spitze getrieben, wenn wir das Bett sehen dürfen, auf dem Kemal lag und dem auf dem neben dem Bett stehenden Stuhl sitzenden Orhan Pamuk seine Geschichte erzählte.


Das Bett Kemals, der Ort, wo er Pamuk seine Geschichte erzählte
Authentik nennt man schriftliche Zeugnisse, die Reliquien beigefügt werden, um deren Echtheit zu bezeugen. Man könnte die Beschilderung im Dachboden des Museums der Unschuld als Authentik bezeichnen. Allerdings sind Authentiken nur dort nötig, wo der unmittelbare Glaube geschwunden ist und durch 'Beweise' und Beteuerungen gesichert werden muß.
Pamuk bemerkt, daß sie, wenn er müde war, die Plätze getauscht haben, ein Fingerzeig für die Ironie, die im Umgang des Autors mit den Realitätsebenen liegt und in der Vertauschbarkeit von Kemal und Pamuk, die offenbar viel gemeinsam haben. Man läßt uns wissen, in der Umgebung würde das Museum „Füsüns Haus“ genannt. Also, wo sind wir denn hier? Im Roman? Im Museum? Oder in einer dritten Geschichte irgendwo dazwischen?
Vor allem in einer Art von Kunst- und Wunderkammer, in einem sorgfältig – von Pamuk selbst - in Vitrinenschränken inszenierten Ensembles von Objekten, die kleine Geschichten erzählen oder die Phantasie des Betrachters anregen, selbst welche zu erfinden, die etwas von der Stadt Istanbul, ihren Bewohnern, ihrem Alltag erzählen. Auch für jemanden der nur das Museum besucht, ohne den Roman zu kennen, „funktioniert“ das Museum als komplexe und verschachtelte Erzählapparatur. Bespielt werden die Schaukästen mit Objekten, die Pamuk im Laufe seines Lebens auf Flohmärkten gefunden, in Trödelläden gekauft hat.


Jedem Romankapitel ist eine Vitrine gewidmet
Die Vitrinen sind numeriert und folgen genau der Reihenfolge der Kapitel des Romans. Also zeigt uns die erste Vitrine „Füsüns Ohrring“. Den, den sie beim Liebesspiel verliert, vergeblich sucht, den Kemal später finden und einstecken wird, ihn ihr aber nicht zurückgeben kann, da er beim folgenden Treffen seine Jacke gewechselt hat. Bei der Autofahrt, die in den Tod führt, trägt Füsün wieder einen, aber einen anderen anderen Ohrring.
Die Vitrine, in der Füsüns Ohrring gezeigt wird
Als überdeterminiertes Objekt – es steht als Souvenir am Anfang und am Ende der Beziehung - hat das Objekt in der Museumsvitrine eine Beglaubigungsfunktion wie kaum ein anderes im Museum der Unschuld. Aber wenn man das Kleingedruckte ganz am Ende des Buches liest, das Pamuk als Erläuterung und Begleitung veröffentlicht hat, findet man dort eine umfangreiche Liste von „Danksagungen“, darunter den Hinweis, daß ein gewisser Fait Tina Füsüns Ohrring hergestellt hat. Das heißt, daß ein fiktiver Gegenstand eine fiktive Geschichte beglaubigt. In einem herkömmlichen Museum wäre das undenkbar, der Ring wäre eine Fälschung, der die Geschichte – und damit das Museum als Ganzes -, unglaubwürdig machte. Vom Museum erwarten wir, daß echte Dinge wirkliche Geschichten erzählen. Das ist, auch wenn es leicht zu erschüttern ist, immer noch ein Glaubenssatz, den ich eben zufällig in einer Ausstellungsrezension unübertrefflich selbstsicher so formuliert finde: “Ein Museum (…) ist eine Autorität, deren Geltung auf Echtheit und wissenschaftlichen Urteilen gründet.” Das wird im Museum der Unschuld auf den Kopf gestellt.

3
Museen, die sich wie das Museum der Unschuld im Grenzbereich von Realität und Fiktion bewegen, gibt es auch anderswo. Das ganz anders konzipierte Museum of Jurassic Technology in Los Angeles von David Wilson ist zugleich Hommage an das Museum wie dessen Kritik. So etwas hat Pamuk nicht im Sinn. Ihm geht es um das Ausloten der musealen Erinnerungsfähigkeit. Das Konzept ist doppelt paradox: Es geht um eine einzigartige Erinnerung, um die Geschichte eines individuellen Paares, die aber über das Museum öffentlich geteilt wird. Kemal möchte, daß seine persönliche und lebendige Erinnerung im technischen Gedächtnis einer Sammlung bewahrt wird – was allenfalls nur für ihn gelten kann, während Pamuk vom öffentlichen Museum und von uns Besuchern verlangt, sich in diese Geschichte einzufühlen, sie zu teilen.

Surrealistisch anmutende Tableaus, Reliquienschrein und Asservatenkammer von Beweisstücken in einem - die Vitrinen des Museums der Unschuld
In einer frühen Version seiner museologischen Thesen (es gibt sie in mehreren Varianten) schreibt er: „1. Museen sind nicht zum Besichtigen da, sondern zum Erfühlen und Erleben; 2. Die Seele des zu Erfühlenden wird von der Sammlung gebildet.“ Wir Leser und Museumsbesucher können, beim Buch wie im Museum, emphatisch die Geschichte mitvollziehen, aber wir können Kemal nicht auf dem weg seines liebenden Eingedenkens an Füsün folgen. Das was die Dinge im Museum der Unschuld leisten sollen, Kemal mit jeder Faser an seine vergangene Liebe zu erinnern und, wie er an einer Stelle des Romans sagt, auch „an sein verpfuschtes Leben“, gerade das können sie für uns nicht leisten.
Kemals „Museologie“ offenbart in ihrer obsessiven Eigentümlichkeit ein Strukturmerkmal des Sammelns, nicht des Musealen. Denn er widmet sich ausschließlich dem biografische und sentimentale Sammeln, „das jeden Gegenstand mit einer Erinnerung verbindet.“ Jeder Gegenstand soll das liebende Eingedenken, das jemand mit einem anderen verbindet, ermöglichen. Das gilt hier aber nur für Kemal und Füsün. Dieses ist als strikt individuell-einzigartiges aber nicht sozialisierbar weil es nicht teilbar und übertragbar ist. Es ist nicht „museumsfähig“. Aber Kemals strikt private Dinge machen auch etwas mit uns insofern sie an unsere Liebe, unseren Schmerz, unsere Trauer erinnern.

Kemals Vermächtnis
Den Bruch und Widerspruch zwischen strikt privater und allgemeiner, öffentlicher Erinnerung scheint Kemal – und vergessen wir nicht, Pamuk ist hier ganz sein alter ego -, nicht wahrhaben zu wollen: Das Glück, das er mit Füsun geteilt habe soll sich allen vermitteln. Er behauptet strikt, daß das Museum ein Ort des Lebens ist, denn nur so kann es die von ihm gewünschte Aufgabe erfüllen. Dem Mechaniker, der das Unfallauto restaurieren soll und der ihm zweifelnd sagt, das Leben müsse doch weitergehen, entgegnet Kemal: „Ist nicht eigentliches Ziel von Roman und Museum, unsere Erinnerung so aufrichtig wie möglich zu erzählen und durch unser Glück in das Glück anderer zu verwandeln?“ Doch wie lebendig sind Museen und wie lebendig kann das Museum der Unschuld sein, wenn an derselben Stelle Kemal seinen „Museumshelden, den Maler Moreau rühmt, weil der in seinen „letzten Lebensjahre(n) mit (der) Sammlung in einem Haus verbrachte, das nach (seinem) Tod zum Museum werden sollte.“ So wolle er, erklärt er dem verblüfften Mechaniker, „bis zu meinem Lebensende mit diesem Auto unter einem Dach wohnen“.
Pamuk beschreibt die fundamentale Lebensfeindlichkeit des Museums präzise und bei der Wahl für den Standort des Museums entscheidet er sich sogar, ein lebendige Dasein zu beenden, um das Museum einzurichten zu können. Er redet nämlich seiner Tante ein, daß sie ihm ihr Haus verkaufen also auch nicht weniger als verlassen soll. Es ist das Haus, in dem Kemal seine jahrelangen Besuche abstattete. Seine Tante wehrt sich: „Kemal, ich bring es nicht übers Herz! All die Erinnerungen!“. Und Kemal erwidert: „Aber wir machen doch das Haus gerade zu einem Ort, an dem wir unsere Erinnerungen ausstellen, Tante Nesibe.“
Füsüns Spuren
Pamuk kennt das Paradox, daß Musealisierung, wie im Fall des Hauses, gerade das, was sie bewahren soll, auslöscht, gerade das Kostbarste, dem ja das Museum der Unschuld gilt: den glücklichen Augenblick. Denn dieses Glück ist immer ein nachträgliches, selbst Fiktion. Über den Moment der Liebe, den er im ersten Kapitel schildert, es ist der, in der Füsün ihren Ohrring verliert, sagt er: „Es war der glücklichste Moment, aber ich wusste es nicht.“ Ist also erst das Museum der Ort des wirklichen Glücks?
Pamuk verleugnet die Widersprüche, damit „...dieser Traum, aus dem man sich nicht befreien kann“ nicht zu Ende geht. Doch weil auch die Trauerarbeitet nie beendet, das über Objekte vermittelte fetischistische Begehren nie stillgestellt werden wird, kann weder Kemal noch Pamuk sich daraus befreien. 
Für Orhan Pamuk gehören Istanbul und "Hüzün" zusammen - der Trübsinn, die Traurigkeit, ja tiefe Melancholie seiner Bewohner. In seinem Buch über Istanbil, das zugleich eine Art Autobiografie ist, kommt Pamuk immer wieder auf "Hüzün" zu sprechen und widmet diesem typischen Istanbuler Gefühl ein eigenes Kapitel.
Pamuk hat das Museum der Unschuld ein „Medium der Feier des individuellen Lebens“ genannt aber im selben Atemzug auch einbekannt, daß es ein „Mausoleum und Monument der individuellen Liebe“ ist.
Ich möchte diese Überlegungen nicht als Kritik gegen das Museum gewendet wissen. Pamuk öffnet mit dem Museum eine poetische Wunderkammer, einen Reflexionsraum, in dem wir uns über unsere Erinnerung und unser Begehren sowie die Weisen, wie wir damit umgehen und das Vergangene festhalten, klar besinnen können.
An prominenter Stelle finden wir im Museum der Unschuld einen Text von Samuel Taylor Coleridge, der auch dem Roman als Motto vorangestellt ist: "Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwandert, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand - was dann?"
Ich wüßte keine bessere Empfehlung an die Besucher, als sich mit diesem Satz in dieses zauberhafte Museum zu begeben.


Ein Foto Füsüns? Ist das Füsün? Und was sind das dann für Ohrringe?




Sonntag, 11. Mai 2014

Orhan Pamuks Text über das Museum der Unschuld. Ein poetologischer und museologischer Text zu einem einzigartigen Projekt (Das Museum lesen 36)


Im Jahr 2008 erschien in Istanbul der Roman Masumiyet Müzesi, das Museum der Unschuld, von Orhan Pamuk, der 2006 den Nobelpreis erhalten hatte. Eigentlich sollte gleichzeitig mit dem Roman ein gleichnamiges von Pamuk geplantes und parallel zum Buch entwickeltes Museum eröffnen, doch aus praktischen und politischen Gründen - Pamuk wurde zeitweilig verhaftet und von radikalen Gruppen mit dem Tod bedroht -, verzögerte sich die Realisierung erheblich. 2012 war es dann so weit.

Aber was ist das für ein Museum? Mein Reiseführer "Istanbul" stellt es kurz und bündig als Alltagsmuseum vor. Sicher, es gibt hier vieles, was man so landläufig als Alltagsgegenstände bezeichnet und gelegentlich wird einem auch als Tourist, der Istanbul erst grade kennenlernt, einiges von den Bezügen zur Stadt deutlich.
Aber was sollen das für Straßen sein, "die mich an sie erinnern"? Wer spricht da, und vom wem? "Phantome, die ich für Füsun halte". "Die Sommerabschlußparty". "Eine leere Wohnung". "Die erste türkische Fruchtlimonade".
Hat sich da das sogenannte wirkliche Leben eingeschlichen? Aus dem Roman? Aus Pamuks Leben und aus Istanbul? "Wie man ein Drehbuch durch die Zensur bringt" oder "Onkel Tarik". Kann uns das interessieren, können wir das verstehen?
Oder muß man dazu den Roman gelesen haben?

Ich bezweifle, daß das viel hilft (Pamuk verneint die Frage, ob man das Buch als Voraussetzung eines Museumsbesuchs kennen müsse), selbst wenn man das erst gerade getan und ein sehr gutes Gedächtnis hat. Selbst die strikte Durchnummerierung der Vitrinen im Museum nach den Kapiteln wird nicht viel helfen.
Illustriert das Museum das Buch, oder erzählt der Roman jene Geschichte, die hier ausgestellt ist?
So viel sei verraten: Pamuk hat Roman und Museum von Anfang an als ein Projekt verstanden und es folgte das Zusammentragen einer Sammlung keineswegs dem Buch, sondern eher umgekehrt, wenn sich ein ungewöhnlicher, überraschender Fund einstellte, wurde er als Requisite in die Erzählung des Romans integriert.

In der Vitrine mit der Zahl 1 sehen wir, vor einem sich bauschenden Vorhang, "Füsuns Ohrring". Auch von ihm weiß der Autor, der des Romans wie der des Museums, von Kemal, dessen Geliebte Füsun war. Im Dachgeschoß des Museums finden wir das Bett, auf dem liegend, Kemal Pamuk, der auf einem Stuhl neben ihm saß, seine Lebensgeschichte erzählt hat. Dort muß er ihm auch berichtet haben, unter welchen Umständen der Ohrring verloren ging, und warum er sagen konnte, es sei "der glücklichste Augenblick meines Lebens" gewesen.
Noch im Roman, in dessen letzten Kapiteln, hat Kemal nach dem Tod Füsuns, Orhan Pamuk beauftragt, seine Geschichte zu erzählen und die seiner großen Liebe. Er wünschte sich von Pamuk einen Text, der gleichsam jenes Museum, das er, Kemal, einzurichten plante, begleitenden sollte oder gar einen Katalog, wie es im Roman wörtlich heißt (sogar eine Eintrittskarte ist dort schon abgedruckt).
Gibt der Roman also eine wirkliche Geschichte wieder, und ist dann das Museum so etwas wie eine - fiktive oder konkretisierende - Erweiterung, Umspielung, ein Ort der Beweise für die Wirklichkeitshaltigkeit des Buches? Eine Asservatenkammer der Indizien, die die Geschehnisse des Romans beglaubigen?
Nur was sollen wir denn mit dieser individuellen, privaten und intimen Erinnerung? Nimmt uns nicht gerade das jeglichen Zugang zur Geschichte, wenn wir das Museum besuchen? Erst wenn wir im Museum etwas begegnen, das uns – auf Grund geteilter Erfahrung, geteilten Wissens -, das Verstehen ermöglicht, können wir Gegenstände mit Bedeutung belehnen.
Nun, Pamuk spielt mit beidem, mit der Spiegelung von Buch (dem wir als Roman die Fiktion zuordnen würden) und Museum (dem wir Kraft der Konkretheit der Dinge, ihrer physischen Präsenz in unserer Gegenwart, die Wirklichkeit, die Welt der Tatsachen zuordnen würden) und mit der Spiegelung von Fiktion und Realität.
Er spricht von "ausgestellten Rätseln" und "optischen Täuschungen" und von einem "Traum, aus dem man sich nicht befreien kann".

"Der glücklichste Augenblick meines Lebens". Wer vermöchte ihn  festzuhalten - außer in der fragilen, oft entstellenden Erinnerung, die keiner gegenständlichen Stütze bedarf, also im liebenden Eingedenken, in dem eine Berührung der nackten Körper durch den am offenen Fenster wehenden Vorhang oder das Geschrei der fußballspielenden Kinder in Erinnerung bleibt. Aber nicht als Text und nicht als Ding oder Bild. Sondern ausschließlich als lebendiges Erinnern, das mit dem Tod erlischt.
Dieser Traum, aus dem man sich nicht befreien kann, soll aber dennoch nicht zu Ende gehen, aber es ist auch der, aus dem sich nicht nur der Autor, der Held, sondern vielleicht auch der Besucher nicht befreien kann und nicht befreien soll.
"Wenn ein Mensch im Traum" zitiert Pamuk zu Beginn des Romans (und im Museum taucht der Text auch auf) Samuel Taylor Coleridge, "das Paradies durchwandert, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand - was dann?"
Das ist die dritte Ebene in Pamuks Spiegelkabinett. Wie er mit der Un-Möglichkeit des Erinnernd spielt. Ist er selbst Kemal? Gab es Kemal überhaupt je? Ist nicht alles erfunden? Und woran sollen wir uns eigentlich erinnern? Wer ist hier das Subjekt der Erzählung und wer des Gedächtnisses? Woran können uns Dinge erinnern? An jene Wirklichkeit, in der sie einmal existiert haben oder ohnehin nur an jene Träume, die sie in uns auslösen?
Aber da ist ja Füsuns Ohrring, in der Vitrine, wir sehen ihn mit eigenen Augen, den Ohrring, von dem Füsun im Roman sagt, "er sei ihr wichtig", als Kemal ihn später nicht in seiner Jackentasche findet. Dort hat er ihn verstaut, nachdem er ihn gefunden hat. Aber inzwischen hat er die Jacke gewechselt und kann ihn Füsun nicht zurückgeben.

Während der Planung und der Realisierung des Museums ist Pamuk von Kindern angesprochen worden, ob er ihnen nicht die über den Zaun geschossenen Bälle zurückgeben könne. Konnte er nicht, schreibt Pamuk, weil der Freiraum um das Haus derart vermüllt war, daß man erst bei Baubeginn mit dem Entrümpeln beginnen konnte. Dann fand man siebzehn Bälle.
Ist einer der Bälle derjenige, mit dem die Kinder in der Gasse spielten, als sich Füsun und Kemal in ihrem Zimmer bei offenem Fenster liebten?
Jedenfalls gibt es einen Ball in einer Vitrine des Museums. Und Füsuns Führerschein. Und selbstverständlich die  4213 Stummel, die von Füssens gerauchten Zigaretten übrigblieben. Aber das ist eine andere Geschichte. Die erzähle ich ein anderes mal.
Und im Kleingedruckten, am Ende des Buches, dort, wohin man als Leser vielleicht nie hingelangt, unter Danksagung, erfährt man auch, wer Füsuns Ohrring fürs Museum hergestellt hat...

Um Pamuk besser zu verstehen, seine - soweit ich sehe einzigartige - Idee, einen Roman und ein Museum als komplementäre Teile eines Projektes zu entwickeln, kann man auf ein anderes Buch von ihm zurückreifen (das auch auf Deutsch vorliegt): "Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul". (München 2012). Es gibt einen einleitenden Teil mit ausführlichen Texten Pamuks zum Roman und vor allem zum Museum und einen Teil, in dem in 74 Abschnitten - reich bebildert - die Stationen und Vitrinen des Museums vorgestellt werden. Und das wiederum so, daß die Texte eher Erweiterungen denn Erklärungen sind. Sein poetologischer Zugang ist subtil, leicht, wunderbar zu lesen. Etwa wie die Geschichte der Entdeckung des Hauses, das er als Museum wählte, am Schulweg, den er täglich mit seiner Tochter zurücklegte. So nebenbei kann von Pamuk lernen, wie man ein Museum vorstellt.
Pamuk hat aber auch eine veritable Museologie zur Hand, die er seit dem Roman sichtlich weiterentwickelt hat und die einem zusätzlich hilft, seine Ideen und sein Konzept des Doppelprojektes besser zu verstehen. Dieser Museologie (die einer gesonderten Auseinandersetzung lohnte) liegt das begeisterte Stöbern und Sammeln zugrunde, aber Pamuk ist auch ein begeisterter Museumsbesucher (übrigens wie Kemal, von dem im Roman gesagt wird, daß er nach Füsuns Tod über 4000 Museen bereist habe). Ein Besucher vor allem kleiner Museen und da wiederum solcher Museen, die möglichst die Spuren der Personen, die dort gelebt haben, noch bewahrt haben. Das war ein nicht geringes Vergnügen, zu erfahren, wie sehr Pamuks Museumsvorlieben sich mit meinen decken. Mit wenigen Ausnahmen kannte ich die Orte, die er ausdrücklich als Inspiration für Roman und sein Museum nennt.
Mit diesem „Begleit“-Buch in der Hand, wird man sich dem Spiel der Verweise und dem changieren der Ebenen des Museums viel besser aussetzen können, wird tiefer in die eigentümlich zweideutige Welt des Romans, des Museums und Orhan Pamuks eintauchen können.

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Haus der Geschichte. Mein "nein" dazu

Am Montag fand in der Akademie der Wissenschaften in Wien eine Veranstaltung zum "Haus der Geschichte" statt. Siebzehn Referentinnen und Referenten sprachen zum Thema und diskutierten mit dem Publikum.

Hier mein Beitrag:

Für ein Museum des Konflikts

Ein Museum kann nicht nur von Demokratie sprechen, wie es im Konzept für ein Haus der Geschichte in der Neuen Burg der Fall ist, es muss auch selbst demokratisch sein.
Was das bedeutet, das ist mein einziges Thema.

I
Museen sind Orte der Selbstdarstellung und Selbstauslegung von Gesellschaften und Gemeinschaften. In Museen sammeln sich Menschen um Gesammeltes. Es geht ums Sammeln und ums Sich-Sammeln. Kaum ein Museum verzichtet auf Räume, die dem durch Architektur und Dekor praktisch wie symbolisch Rechnung tragen.
Über Gegenstände und ihre Ausstellung und Ordnung deuten Menschen ihre Herkunft und Zukunft vor allem aber den Grund ihrer Zusammengehörigkeit. Darin unterscheidet sich das Baldramsdorfer Handwerksmuseum nicht vom British Museum.
Als Versammlung um eine Sammlung bilden die Beteiligten ein zivilisierendes Ritual, deren Feinheiten wir alle kennen und internalisiert haben und abrufen, sobald wir Museumsbesucher sind. Zivilisierend sind diese Rituale vor allem dann, wenn sich körperliche und affektive Involvierung mit kognitiver Reflexion mischt, in der der Wahrheits- und Geltungsanspruch des Verhandelten geprüft und abgewogen wird.
Dies nennt man liberale bürgerliche Öffentlichkeit, mit der das Museum genealogisch verbunden ist und durch das es selbst politisch und demokratisch wird, wenn es aus dem Diskurs dem Anspruch nach niemanden ausschließt.

Öffentlich ist das Museum aber keineswegs wegen dieser allgemeinen also auch sozialegalitären Zugänglichkeit. Der Sinn des Museums erschöpft sich keineswegs in der statistisch erhobenen Vielzahl der Besucher. 
Denn öffentlich nennen wir Institutionen, die der Staat im Interesse der Wohlfahrt der Gesellschaft einrichtet, treuhänderisch verwaltet und aus Steuermitteln erhält.
Es gibt Einrichtungen, deren Zugänglichkeit wir nur ungern in Anspruch nähmen würden, wie Gefängnisse, die dennoch öffentlich im genannten Sinn sind.
Das Museum ist eine Institution unter vielen anderen öffentlichen, wie etwa Schulen, Universitäten, Spitäler oder Verkehrsmittel und dient mit ihnen der Verwirklichung eines Gesellschaftszieles. Seit den frühen republikanischen Verfassungen wird dieses Ziel mit allgemeiner und sozialer Wohlfahrt beschrieben. 

II
Wenn das Museum aber nur eine unter sehr vielen Einrichtungen ist, die der allgemeinen Wohlfahrt dienen, warum hat es eine derart ausgezeichnete, überdeterminierte Stellung, als monumentale und expressive Architektur, als städtebauliche Landmark im Zentrum der Metropolen, als hochkulturelle Instanz?
Warum dieser Rang von Institution, Bau und Ort? 

Um diese Frage zu beantworten werde ich einen kurzen Blick auf die Entstehungsgeschichte des modernen Museums werfen und auf ein herausragendes Datum: Die Gründung des Museum français im Louvre im Paris des Jahres 1793, am 10.August.
Wenige Monate davor hatte man Ludwig den XVI. hingerichtet. 
Der Schnitt durch den Körper des Bürgers Capet, als der er angeklagt worden war, zerstörte auch den transzendentalen Leib des Königs und die Konfiguration der Macht des alten Staates und beraubte damit die neue Gesellschaft eines Halt und Ausdruck gebenden „Objekts“. 
Der Bruch mit der alten Herrschafts-, ja kurzzeitig sogar Zeitordnung, setzt eine Dialektik in Bewegung, die eine Schließung der entstandenen Leere zum Ziel hatte. Man darf spekulieren, ob das Museum und seine Sammlung, dieses Ding das sammelt nicht eine Form der Substitution des Mangels sind. Ist es nicht symptomatisch, daß man den architektonisch und städtebaulich zentralen Herrschaftsbau, das Königsschloß, zum Museum macht?

Dieselbe Dialektik ist während der Vorgeschichte der Museumsgründungen der Revolution am Werk. Das Verschwinden der kulturellen Dinge - der frühe Bildersturm ist blanke Zerstörung -, das Verschwinden der Zeichen, die verhasst sind, die Plünderung der Gräber, der Abbruch von Kirchen führt zu einer sorgenvollen Debatte der Volksversammlung, die eine komplette Inversion der Kulturpolitik einleitet. 
Dem Furor des Verschwindens wird eine Politik des Erbes entgegengesetzt, die ihre Kulmination in der Gründung einer Denkmalpflegebehörde und von Museen findet und in der Adaption eines neuen Wortes für das Gesamt der kulturellen Überlieferung: Patrimoine.
Dieses Erbe ist in rechtsbrüchigen und gewaltförmigen Prozessen wie Säkularisierung, Beschlagnahme, Enteignung usw. entstanden um nun in den Besitz des Volkes zu gelangen. Dieses Strukturmerkmal, das Museum als Gemeinbesitz, haben öffentliche Museen bis heute und dort erfolgt auch, nebenbei sei das eingefügt, der zentrale Angriff der gegenwärtigen Ökonomisierung.


III
Wenn meine Überlegungen zutreffen, dann wäre das Museum ein Schauplatz der Vergesellschaftung, ein Ort der symbolischen und rituellen Vergemeinschaftung, der im Frankreich der Revolution, inmitten der umfassenden Krise den Zusammenhalt herzustellen und zu stabilisieren versucht. 
Eine solche Annahme wird mit dem Blick auf zwei weitere Ereignisse des Gründungstages des Museums gestützt. Da ist einmal die feierliche Deklaration der Verfassung, der ersten republikanischen Frankreichs und ein Fest, das abertausende Franzosen in einer Prozession durch die Straßen von Paris vereint und in einem Eid der Abgeordneten der Departements gipfelt.
Die Teilhabe der Bürger an diesem Gründungsakt einer Nation macht sie zu Staatsbürgern, und der Umstand, daß dieses Ereignis geplant und überlegt mit der Museumsgründung zusammengelegt wird, bedeutet, daß auch das Museum als zivilisierendes Ritual dieselbe politische und soziale Funktion haben soll. Es ist erstmals einer der Orte, an dem die Gesellschaft zu sich kommt und wo der Einzelne sich durch Teilhabe zum gesellschaftlichen Subjekt macht womit er seinerseits wieder zur Formierung der Gesellschaft beiträgt.

Alle drei Ereignisse, Verfassungsdeklaration, Nationalfest und Museumsgründung lassen sich als performative Akte verstehen, die um die Leerstelle kreisen, die sich in der Mitte der Gesellschaft geöffnet hat. Dieser Prozess ist widersprüchlich. Denn die Frage nach dem Grund der Gesellschaft, nach ihrem Zusammenhalt, zielt einerseits auf eine Antwort die definitiv ist, aber damit den Platz, der leer ist, besetzen würde. Das darf aber andrerseits nie gelingen. In der Demokratie darf und kann es kein Objekt geben, das den Platz der Macht auf Dauer besetzt. Der geregelte und kontinuierliche Wechsel der Macht ist ein essentielles Strukturmerkmal von Demokratien. 
Zur Dialektik von Kontinuität und Bruch, von Bildersturm und Erbepolitik, gehört also die Suche nach diesem unmöglichen Objekt, das man in der Idee des Patrimoine ebenso findet, wie der des Museums. Dazu gehört aber auch die Ahnung, daß es 
unmöglich ist, unter demokratischen Bedingungen ein Objekt zu denken und zu konstruieren, das die Gesellschaft repräsentiert, eint, zusammenhält, wie einst der Körper des Königs.

IV
Wie wird das Museum seinem Anspruch gerecht, das fehlende Objekt, diese cosa nostra, zu substituieren, den Skandal der Leerstelle im Zentrum der Gesellschaft zu beheben? 
Widersprüchlich und schlecht. Das Museum tendiert dazu, Identität festzustellen, es drängt uns mit seiner verdinglichten, scheinobjektivierenden Struktur Wahrheitserzählungen auf. Während wir etwa im Theater oder beim Film immer der Konstruktivität des Gezeigten gewärtig sind, und wissen, daß es auch anders erzählt und dargestellt werden könnte, fällt gerade das beim Museum aus. Geschickt verbirgt das Museum Autorschaft und die Kontingenz seiner Botschaft.
Deshalb ist das Museum auch so frenetisch beliebt, wenn es um Identität geht. Im Rückgriff auf authentische Objekte scheint sie sich dort wie nach Rezept feststellen, herstellen und behaupten zu lassen. 

Vor allem aber ist das Museum hinsichtlich Macht und Identität eins: kein neutraler Ort. Weder Kuratoren noch Ausstellungsmacher noch VermittlerInnen oder wer auch immer sonst, können sich außerhalb des Feldes der Macht positionieren. Verschleiert wird das dadurch, daß die Museumserzählungen und Repräsentationsformen eine allgemeine Gültigkeit und Verbindlichkeit behaupten, obwohl sie immer eine Auswahl darstellen, immer Nicht-Gesagtes enthalten und immer mit Ausschlüssen einhergehen. Museumserzählungen sind Setzung, haben partikulare Geltung, doch behauptet das Museum das Gegenteil, nämlich die  allgemeine Verbindlichkeit seiner Werte und Erzählungen. 
Das macht sozial und herrschaftstechnisch Sinn. Unter den genannten Bedingungen wirkt das Museum als ideologischer Staatsapparat hegemonial. Auch weil es nicht so sehr ein Ort der Bildung sondern der Gebildeten ist, einer der Wissen und Werte von Eliten forciert und sie an die Eingeborenen derselben Elite weiterreicht. 
Das Museum gehorcht Interessen, die als für jedermann gültige verallgemeinert werden. Und das umso wirksamer, je mehr die Mechanismen und Funktionsweisen, mit denen das geleistet wird, verschleiert oder verschwiegen werden. Man denke etwa nur an die Kanonbildung im Bereich der Kunst und Kunstgeschichte sowie in den Kunstmuseen. Erst in jüngerer Zeit wurden die Ausschlüsse, die Künstlerinnen betrafen oder die Marginalisierung nicht-europäischer Kunst thematisiert.

V
Ich habe drei Momente genannt, die so etwas wie ein demokratisches Potential des Museums darstellen. Erstens das Museum als Ort liberaler bürgerlicher Öffentlichkeit. Zweitens als Medium, in dem wohlfahrtsstaatliche Zielsetzungen realisiert werden und drittens als Schauplatz, an dem das identifikatorische Zentrum der Demokratie als paradoxer, weil sowohl einigender als auch leerer Signifikant symbolisch besetzt wird.
Alle drei Momente müssten weiterentwickelt werden. Aus bürgerlicher Öffentlichkeit müssten vielfältige und freie Debattenräume für alle nur erdenkliche Öffentlichkeitsformen entstehen und untereinander konkurrieren; die wohlfahrtsstaatliche Verpflichtung müsste wohl erst aus neoliberalem Managementdenken und den Übergriffigkeiten der Ökonomisierung befreit werden um Freiraum für eine Debatte um den gegenwärtigen und zeitgenössischen Sinn des Museums zu schaffen.
Und drittens müsste man den politisch-demokratischen Kern des Museums wiederentdecken. Die Konflikte, die dort, aber verschleiert und entstellt von einem Museum als Unschuldskomödie virulent sind, müssten offen ausgetragen werden. Was das Museum verdrängt, ungesagt läßt, ausschließt, in narrativer Unschuld verleugnet, muß vor das Forum, das über dem leeren Platz der Macht errichtet wird.
Dies setzt etwas voraus, was immer wieder gefordert, selten aber eingelöst wird: Selbstreflexivität. Das heißt Reflexivität über die Bedingungen, unter denen das Museum als Sammlung, Medium, Ausstellung, Organisation und Institution all diese Anforderungen erfüllen kann.

VI
Was läßt sich, ich komme zum Schluß, vor dem Hintergrund meiner Überlegungen zum aktuellen Projekt des Hauses der Geschichte in der Neuen Burg sagen? Seit den Anfängen dieser mehrfach gewandelten Idee, seit Leon Zelmans Forderung nach einem Museum der Toleranz im Palais Epstein, ist es ein paternalistisches Projekt ohne jedes artikuliertes zivilgesellschaftliches Interesse, das ohne die Unterstützung einzelner Politiker nie auch nur einige Wochen überlebt hätte.
Mit der wie eine päpstliche infallible ex-cathedra-Verkündigung vorgetragenen Entscheidung eines Ministers anlässlich des Besuchs einiger Räumlichkeiten der Neuen Hofburg – hierher kommt das Haus der Geschichte! – schlägt der Paternalismus in eine autoritative Setzung um.  
Es mag an den Konsequenzen der Entscheidung Kritik gegeben haben, etwa am Kollateralschaden, den andere Sammlungen nehmen könnten, aber die dezisionistische Entscheidung, der meiner Kenntnis nach für Österreich einzigartige Fall einer unmittelbar politisch lancierten Museumsgründung, scheint nirgendwo Anstoß zu erregen. Das läßt auf eine eklatante Schwäche der Zivilgesellschaft schließen. 
Ich kenne bis heute auch kein Dutzend Personen, die wirklich leidenschaftlich für das Projekt eintreten, nicht einmal dann, wenn ich die professionell Beteiligten dazuzähle, ich kenne aber auch kein Dutzend wirklich energische, argumentativ gut gerüstete Gegner des Hauses der Geschichte. Kurzum, zivilgesellschaftlich ist das Projekt bedeutungslos.
Es fehlt beiden Konzepten erstaunlicherweise jede Zielsetzungii. Das gilt auch für große Teile der medialen Äußerungen zum Haus der Geschichte. Inhalte gibt es viele, Absichtserklärung zur Funktion ebenfalls. Aber was soll es in den Augen seiner Betreiber und Befürworter sein? Eine nationale Bundeslade, ein Medienverbund zur historischen Bildung Halbwüchsiger, ein touristischer Freizeitvertreib, ein Ort der Popularisierung geschichtswissenschaftlicher Forschung? 
Mir wird der gesellschaftliche Sinn dieses Museums durchaus nicht klar.

Mit der Tatsache, daß es zwei Museen geben wird, eines in St. Pölten und eines in Wien, eines von einem sozialdemokratischen und eines von einem christlichsozialen Politiker lanciertes, wird jede Hoffnung, wie ich sie in meinen Überlegungen gewissermaßen provisorisch gehegt habe, völlig obsolet. 
Ich erspare es mir auf viele weitere Aspekte hinzuweisen, etwa auf die klandestine Planung, die schubladisierten Expertisen, die selektive Informationspolitik oder das Versprechen, post festum, wenn alles in Gang gesetzt sein wird, werde es auch so etwas wie eine Partizipationsecke geben.

Es geht weder darum, ob eine große Erzählung besser 1848 oder 1918 einsetzt, auch nicht darum, ob man Computer einsetzt oder Archivalien, sich an die Jugend wendet oder an Touristen und sicher nicht um die Erinnerung an einen bestimmten Balkon.
Was wir doch so dringend gebrauchen könnten, ist ein freies Medium der Zeitgenossenschaft, ein nervöses Auffangorgan, das uns hilft, unsere wahrlich krisenhafte Gegenwart handlungsorientierend zu deuten. 
Dafür wäre eine unabhängig kuratierte und evaluierte permanente Projektreihe ohne festen Ort, an deren Ausführung sich jedermann beteiligen könnte, vom Bundesmuseum bis zu NGOs, vom freiberuflichen Wissenschaftler bis zur engagierten zivilgesellschaftlichen Gruppe ungleich besser geeignet als das angedachte Museum. 
Denn auch das zeichnet das vorliegende Konzept aus, sein altbackener Museumsbegriff, seine erstaunliche museologische Rückständigkeit. Das macht es mit den genannten und anderen Schwächen als Agentur demokratischer politischer Kultur nicht nur unbrauchbar, sondern kontraproduktiv.
Ein klares nein zu diesem Projekt.











07.10.2015


Dienstag, 5. April 2011

Museumsdiplomatie. Aufklärungsexport nach China. Die Großausstellung "Kunst der Aufklärung" und ihr politischer Kontext. Zweite, stark erweiterte Fassung

Über zehn Jahre soll die Vorbereitung der Ausstellung "Kunst der Aufklärung" gedauert haben. Die drei großen Deutschen Museumsverbünde hatten sich zur Ausrichtung dieser Ausstellung zusammengeschlossen, die Museen der Stiftung Preussischer Kulturbesitz Berlin, die Bayrische Staatsgemäldesammlungen und die Dresdner Kunstsammlungen. Mit der Ausstellung bestreitet man die Neueröffnung des (von einem deutschen Architekten) umgebauten und erweiterten Nationalmuseums in Peking. Sie wurde von der Mercator-Stiftung und dem Autohersteller BMW finanziert.
Schon die Eröffnung war überschattet von der Ausladung eines der wichtigsten an der Vorbereitung der Schau beteiligten Wissenschafters, dem die chinesischen Behörden bescheinigten, er sei 'kein Freund des Chinesischen Volkes'. Der zweite und nachhaltigere Eklat ereignete sich kurz nachdem die diversen diplomatischen Zeremonien der Eröffnung beendet waren. Der in Europa bekannteste und mit Deutschland eng verbundene chinesische Künstler Ai Wewei wurde verhaftet und der Wirtschaftskriminalität beschuldigt. Sein Verbleib ist seit der Verhaftung unbekannt.
Schon vor Weiweis Verhaftung (der weder in der Ausstellung, noch im Begleitprogramm eine Rolle spielte), gab es herbe Kritik an der Ausstellung, die doch nur einem Unrechtsregime gestatte, die Aufklärungsschau für ihre politische Zwecke zu instrumentalisieren.

Nach der Verhaftung eines der prominentesten Kritikers der Chinesischen Politik attackierten und attackieren die Medien in Deutschland vor allem die drei verantwortlichen Direktoren und namentlich den Leiter der Dresdner Museen, Martin Roth. Dieser hatte sich mehrfach wenig verbindlich und mißverständlich geäußert.

Wie oft in solchen Fällen dominiert die Personalisierung und eine Kritik der Ausstellung selbst kommt kaum zustande, also eine Auseinandersetzung mit ihren Inhalten, Erzählweisen und Darstellungsformen. Man ahnt mehr als das man es den zahllosen inzwischen publizierten Artikeln entnehmen kann, daß die Ausstellung relativ konventionellen Präsentationsprinzipien folgt, von denen nicht klar wird, inwieweit sie den offenbaren Schwierigkeiten der Ausstellung gerecht wird: die kulturelle Differenz zweier Kulturen zu überbrücken, die Propagierung eines China zwar nicht fremden aber ganz anders konnotierten Begriffs "Aufklärung" zu leisten und dabei die Reserviertheit des chinesischen Publikums gegenüber derartigen Ausstellungen abzubauen.

Das alles hätte doch zu einer besonders sorgfältigen Reflexion der Gestaltung und Strukturierung der Ausstellung führen müssen. Verblüffend ist es, zu hören, wie die drei Generaldirektoren in widersprüchlichen Wortmeldungen, die Möglichkeit infrage stellen, mit Hilfe einer Kunstausstellung einen kulturgeschichtlichen und politischen Begriff wie "Aufklärung" überhaupt repräsentieren zu können. Mit dieser - nach 10 Jahren Vorbereitung überraschend unausgegoren klingenden Überlegungen möchte man irgendwie beides: die 'Unschuld' einer autonomen Kunst retten, die sich in der Ausstellung jenseits aller politischer Kontexte als attraktiv aber politisch neutral gerieren könnte, andrerseits aber doch das politisch-diplomatische Statement, mit dem ein aufgeklärtes Land einem anderen indirekt unterstellt, eine solche noch vor sich zu haben.

Es hat lange gedauert, bis heute, als erstmals in einem Zeitungskommentar die Frage nach der Legitimität aufgeworfen wurde, mit der sich ein Staat der Aufklärung als kulturdiplomatischer Verschiebemasse bedient, der selbst ein höchst gebrochenes Verhältnis zu eben dieser Aufklärung hat. Damit einher ging die Frage, ob denn die herkömmliche Form der Vitrinenausstellung - wenn schon denn schon -, die geeignete Form dafür sein könne oder nicht doch jene subversiven künstlerischen Strategien, denen sich z.B. Ali Weiwei bediente.
 Mich hat die Debatte neugierig gemacht, weil sie möglicherweise etwas über die Entwicklung und Zukunft des Museums aussagt. Der Zusammenschluss der drei großen Museumscluster erfolgte nicht erst jetzt für Peking. Er war eine Reaktion auf die 'Globalisierung' der Museumspolitik einiger Big Player, allen voran des Guggenheim-Museums und dann des Louvre. Die Expansion der Museen ohne geografische Begrenzungen und der Zusammenschluss großer Museen folgte dabei der Logik der Konzernbildung und der expansiven Markterschließung. Das kulturelle Kapital folgte der Logik des Finanzkapitals, in ungleich bescheidenerem Umfang aber auch nicht ohne erhebliche Widersprüche. Der Zusammenschluss der drei deutschen Großmuseen folgte der Entwicklung und sollte sie konkurrenzfähig machen. Die Ausstellung in Peking hätte das bisher spektakulärste Projekt der großen Museen sein sollen.

In einer der meistkritisierten Äußerungen Martin Roths, des Generaldirektors der Dresdner Museen, kommt der 'Sinn' der Ausstellung klar zum Ausdruck. Dort relativierte er die Verhaftung und das Verschwinden Ali Wieweit mit dem Hinweis, daß die Wirtschaftsweltmacht China 'uns' Brot und Arbeit verschaffe. Ohne Chinas Aufschwung, kein deutscher Phaeton.

Wie kommt Roth auf den Phaeton? Weil die 'Gläserne Manufaktur' von VW, wo man das Luxus- und Hochpreisauto (ab 66.000.-Euro) als Käufer persönlich abholen kann, in Sichtweite des Museums liegt, wo Martin Roth seine Museumskarriere begann (Hygiene-Museum)? Oder weil er uns sagen wollte, kein Luxus der Konsumgüter ohne Wohlverhalten gegenüber China?

Man geheimnisst nichts in die Tatsachen hinein, wenn man, mit vielen anderen Kommentatoren feststellt: China ist eine wirtschafts- und finanzpolitische Weltmacht, der man sich andienen will. Da braucht man nur einen Blick auf die Webseite des Generalsponsors BMW zu werfen. Eine möglichst ideologiefreie Kunstausstellung, die man mit einem Augenzwinkern jederzeit auch als 'aufklärend' hätte etikettieren können, wäre da ein wunderbares Gleitmittel gewesen.

Wenn nicht China völlig unbeeindruckt von westlichen Debatten einen dissidenten Künstler einfach hätte verschwinden lassen...



SZ: Gleichzeitig findet eine große deutsche Ausstellung im größten Museum der Welt am Platz des Himmlischen Friedens statt. Sie trägt den Namen 'Kunst der Aufklärung'. Wie denken Sie darüber?
Ai: Der Platz des Himmlischen Friedens ist der ironischste Ort der Welt für eine Ausstellung über die Aufklärung, denn wir Chinesen erleben gerade ein Zeitalter der Dunkelheit. Es gibt einen wirtschaftlichen Boom, und die Lebensverhältnisse der Menschen verbessern sich allmählich. Gleichzeitig aber ist China an einem neuen Tiefpunkt angelangt, was die Redefreiheit betrifft, die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks oder die Freiheit der Erziehung. Es ist ein neuer Tiefpunkt für unsere Zivilgesellschaft. (Ai Weiwei in einem fünf Tage vor seiner Verhaftung und vor der Eröffnung der Ausstellung "Kunst der Aufklärung" gegebenen Interview. "Wir leben im Zeitalter der Verrücktheit". Süddeutsche Zeitung 5.4.2011)


"In China ist die Literatur der Aufklärung Pflichtlektüre und es gibt einen großen Bildungshunger. Da lag es nahe, diese Epoche mit Gemälden und Objekten zu vermitteln, damit sich zur Literatur dieser Zeit auch eine bildliche Vorstellung gesellt: zum Beispiel zum höfischem Leben, zu den Errungenschaften der Technik, zum veränderten Geschichtsbewusstsein oder zur neuen Rolle der Frau in der Gesellschaft. In insgesamt neun Kapiteln wird die Kunst der Aufklärung - auch mit ihren Schattenseiten sowie einem Ausblick in die künstlerische Gegenwart - vorgestellt. Damit bietet die Ausstellung allen Besucherinnen und Besuchern in Peking vom Schulkind bis zum Intellektuellen zahlreiche Anknüpfungspunkte." Michael Eissenhauer, Martin Roth und Klaus Schrenk: Was bedeutet Ali Weiweis Verhaftung für uns? Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.04.2011

Bei dem, was jetzt in Peking zu sehen ist, stimmen weder das Ausstellungskonzept noch das Begleitprogramm, weder Politik noch Kultur. "Die Kunst der Aufklärung" ist ein Fiasko - und sie geht keineswegs mutig mit den Gastgebern und deren politischen Vorgaben um.
Bei den geplanten Debatten im Forum "Aufklärung im Dialog", von der Mercator-Stiftung finanziert, fehlt zum Beispiel die Stimme des bedeutendsten chinesischen Gegenwartskünstlers. Ai Weiwei, das weltweit bekannte Sprachrohr der Opposition, musste leider draußen bleiben. Die Auswahl der Gäste lag bei der chinesischen Regierung, offenbar mochten die deutschen Aufklärer die andere Seite nicht allzu sehr provozieren. (
Die Kunst des Gähnens, DIE WELT, 31.3.2011)


Vor Beginn der Ausstellung «Die Kunst der Aufklärung» in Peking haben die Macher in China ein großes Interesse an der Thematik ausgemacht. «Das Thema Aufklärung ist von unseren Partnern in China gewünscht und getragen», sagte der Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Martin Roth, der «Dresdner Morgenpost» (Dienstag). Besondere Brisanz sehe er nicht. «Wir kommen als Brückenbauer, nicht als politische Missionare.» (Generaldirektor: «Kunst der Aufklärung» soll Brücken bauen, Bild.de 14.3.2011)

Wenn alles gut geht, könnte in den nächsten Tagen ein Wunder geschehen. Dann wird sich im Pekinger Frühling schlagartig das Gedankengut der Aufklärung verbreiten: Freiheit, Menschenrechte, Demokratie. Und die Deutschen hätten dies alles nach China eingeschleust, mit einer bahnbrechenden Ausstellung: "Die Kunst der Aufklärung." (Die Kunst des Gähnens, DIE WELT, 31.3.2011)
 

Vor der Eröffnung war die politische Indienstnahme der „Kunst der Aufklärung“ intensiv diskutiert worden. Die Verpflichtung zum Gelingen ist beinahe zwangsläufig Teil eines politischen Spiels, aus dem die deutschen Museen und das Auswärtige Amt bei dem Projekt nicht herauskommen. Man war nur bedingt Herr der Regeln, auch wenn Roth beteuerte, dass den Museen bei der Konzeption nicht hereingeredet worden sei. Das verhaltene Auftreten der deutschen Vertreter markierte nicht zuletzt auch die politische Ambivalenz dieses von BMW und der Mercator-Stiftung gesponserten Mammutprojektes, das durch eine Konferenz zum Thema abgerundet wurde. (Der Schlaf der Vernunft und ihr Erwachen, Frankfurter Rundschau, 3.4.2011)

Die Eröffnungsfeierlichkeiten zur "Kunst der Aufklärung" waren eine mehrtägige Performance. Ihr Titel hätte lauten müssen: Wie man beständig von Dialog redet, aber trotzdem keinen zustande bekommt. Die Museumsdirektoren, die die Schau verantworten, begannen gleich mit einer Selbstverteidigung. (Peking, wie es lächelt und schweigt, Die Welt 4.4.2011)
 
Als höchstrangige Vertreterin Chinas begrüßte die Staatsrätin Liu Yandong die Schau im neu renovierten Nationalmuseum am Pekinger Platz des himmlischen Friedens als Beweis für die guten Beziehungen beider Staaten. Liu ist Mitglied des 15-köpfigen Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas und damit die mächtigste Frau des Landes. (Trophäen im Haus der Macht. taz, 2.4.2011)

Euphorisch feiert die Staatspresse den 270 Millionen Euro teuren Umbau und rechnet vor, dass das Museum mit einer Baufläche von 200000 Quadratmetern größer sei als jedes andere Museum der Welt. Die Ausstellung „Kunst der Aufklärung“ belegt gerade einmal drei vergleichsweise kleine Räume. ... „Die Arbeiter von BUCG haben mit ihrem Herz, Blut und Schweiß einen heiligen Tempel für das chinesische Volk errichtet“, schrieb die Nachrichtenagentur Xinhua. (Pekinger Dachschaden, Frankfurter Rundschau 3.4.2011)


Bilder, Skulpturen, Möbel, Bücher und Kleider werden auf 2700 Quadratmetern gezeigt. Eine Schau der Superlative, die als deutscher Exportschlager im aufwendig von den deutschen Architekten Gerkan, Marg und Partner (gmp) umgebauten Nationalmuseum eine kulturpolitische Kraftanstrengung zum Abschluss bringen. (Der Schlaf der Vernunft und ihr Erwachen, Frankfurter Rundschau, 3.4.2011)

„Aber im Juli kommt die Bundeskanzlerin nach China und wird sich bestimmt auch das Museum anschauen, und dann darf hoffentlich auch ich mal was sagen.“ (Der deutsche Architekt von Gerkan, zit. n.: Pekinger Dachschaden, Frankfurter Rundschau 3.4.2011)

Das Gebäude symbolisiert die Größe und Macht des neuen Chinas. Hinter der alten Fassade wurde kräftig angebaut, aus 35.000 Quadratmetern wurden 191.900 Quadratmeter. Für rund 250 Millionen Euro entstanden 49 Ausstellungshallen, ein Kino, ein Auditorium und eine gewaltige Lobby von 260 Metern Länge, 34 Metern Breite und 27 Metern Höhe.  (Trophäen im Haus der Macht. taz, 2.4.2011)

Zum Schluss spielte die Sächsische Staatskapelle Dresden Ludwig van Beethovens dritte Sinfonie, die "Eroica". - Gewöhnliches Publikum darf erst ab dem Wochenende durch die Hallen dieses größten Museums der Welt strömen. (Trophäen im Haus der Macht. taz, 2.4.2011)

"Die europäische Aufklärungsidee wurde zur wichtigen Referenz für das chinesische Volk während der Überwindung der feudalen Unterdrückung, im Kampf gegen ausländische Aggressionen und auf dem Weg zur Wiederbelebung des Volkes", schreibt Lü Zhangshen im Ausstellungskatalog, der Leiter des Nationalmuseums. (Trophäen im Haus der Macht. taz, 2.4.2011)

Nicht minder schwierig war die Zusammenarbeit mit einer chinesischen Kulturbürokratie, die den Ehrgeiz hatte, mit der Wiedereröffnung ihres Nationalmuseums am Platz des Himmlischen Friedens zugleich das größte Museum der Welt zu eröffnen. Die Kunst der Aufklärung als kulturpolitische Selbstvergewisserung in Zeiten der Globalisierung. (Der Schlaf der Vernunft und ihr Erwachen, Frankfurter Rundschau, 3.4.2011)

Freundlich ging es zu, als die größte jemals im Ausland gezeigte deutsche Kunstausstellung eröffnet wurde. Der eigens angereiste deutsche Außenminister Guido Westerwelle sagte, welch "große Ehre" das alles für die Deutschen sei. (Trophäen im Haus der Macht. taz, 2.4.2011)

Martin Roth, Chef der Dresdener Kunstsammlungen, annoncierte eher beiläufig die Abwesenheit des Schriftstellers und Sinologen Tilman Spengler, der das Projekt seit seiner Entstehung als Berater des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder mit auf den Weg gebracht hatte. War der Mann verhindert? Womöglich krank? Weder, noch. Spengler hatte zur Eröffnung kein Einreisevisum erhalten. (Der Schlaf der Vernunft und ihr Erwachen, Frankfurter Rundschau, 3.4.2011)

Auf die Frage einer Reporterin, wie sich denn diese Versprechen mit dem Einreiseverbot von Tilman Spengler vertrügen, antwortete der chinesische Regierungsvertreter erst gar nicht. Die Pressekonferenz war damit beendet, im Saal brach verhaltenes Gelächter aus. (Peking, wie es lächelt und schweigt, Die Welt 4.4.2011)

Ich mochte es nicht glauben: Ganz ohne Not, aus voller Überzeugung, standen die Herren von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden in der Reihe hinter mir auf und applaudierten Herrn Lü, dem Direktor des chinesischen Nationalmuseums. In Gegenwart des deutschen Außenministers Guido Westerwelle und des chinesischen Kulturminister Cai Wu erklärte Lü dem Kollegen von der Süddeutschen Zeitung, die Frage gehe ihn nichts an, schließlich sei er nicht von der Visaabteilung. Der Kollege hatte um eine Stellungnahme zum Fall Tilmann Spengler gebeten, der als Mitglied der deutsch-chinesischen Expertengruppe der Mercator-Stiftung nicht nach Peking kommen durfte, weil er nach seiner Laudatio auf den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo nicht mehr als "Freund des chinesischen Volkes" gilt. (Die Feigheit der Aufklärer, taz 6.4.2011)

Petra Kipphofs Ausstellungsbesprechung gibt die bislang beste Vosrstellung von dem, was dort, im Nationalmuseum eigentlich zu sehen ist. "Eine ebenso heiter wie selbstbewusst den Besucher anblickende junge Frau gibt den Ton vor, lädt ein in die Ausstellung. Sie sitzt mit übergeschlagenen Beinen auf einem Steinblock, trägt ein locker den Körper umspielendes Kleid in den Farben der französischen Trikolore, hat einen Arm aufgestützt. Viele junge chinesische Frauen lassen sich fotografieren vor dieser Heinrike Danneker, die, gemalt von ihrem Jugendfreund Christian Gottlieb Schick, auf eine sehr natürliche Weise sowohl die Ideale der Französischen Revolution wie auch einer aufgeklärten Emanzipation in ihrer Person vereinigt.  (Bei Licht besehen. «Die Kunst der Aufklärung» im neu eröffneten Nationalmuseum Peking, NZZ, 11.4.2011)


Polizisten treten ins Bild, stellen sich vor dem Eingang zum Atelier des weltbekannten Konzeptkünstlers Ai Weiwei auf. Mehr ist in den BBC-Nachrichten am Montagmorgen nicht zu sehen. Der Bildschirm wird plötzlich schwarz. (...) Ai Weiweis Verschwinden wirkt unmittelbar nach dem Abflug von Außenminister Guido Westerwelle von Peking so, als hätten die Behörden abgewartet, um ihre Abrechnung mit dem Systemkritiker nicht zum außenpolitischen Affront werden zu lassen. Westerwelle hatte die von deutschen Museen arrangierte Ausstellung "Die Kunst der Aufklärung" im neuen Nationalmuseum Pekings eröffnet.  (Wie man Menschen wegharmonisiert, Die Welt 5.4.2011)

SZ: Sehen Sie in China derzeit noch Möglichkeiten für Künstler, eine öffentliche Rolle zur Veränderung der Gesellschaft zu spielen, wie es ja die Aufklärung in Europa gefordert hatte?
Ai: Kaum. Für das öffentliche China existiere ich ja gar nicht mehr. Wenn Sie meinen Namen in eine Suchmaschine im Internet tippen, dann erscheint eine Fehlermeldung. Ich bin 'wegharmonisiert' worden.
(Ai Weiwei in einem fünf Tage vor seiner Verhaftung und vor der Eröffnung der Ausstellung "Kunst der Aufklärung" gegebenen Interview. "Wir leben im Zeitalter der Verrücktheit". Süddeutsche Zeitung 5.4.2011)

Bereuen Sie nach der Festnahme des chinesischen Künstlers Ai Weiwei Ihre Kooperation mit China?
--- Nein. Wenn ich mich aus dieser Art von Projekten zurückziehe, könnte ich meinen Job gleich aufgeben. Außerdem bewundere ich die Leistungen Chinas, auch wenn es Rückschläge gibt. Ich verstehe meine Arbeit immer politisch. Wenn wir die Kunst aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang lösen, haben wir verloren. Ich glaube an den Dialog, zu dem auch der Streit gehört – deshalb arbeite ich sogar mit Teheran zusammen. Wenn die Kultur schweigt, ist alles verloren. Und dennoch arbeite ich in einem Museum und nicht in der Politik. Und genau deswegen haben wir ganz andere Möglichkeiten, die auch subtiler sind als Parolen. (Martin Roth, Generaldirektor der Dresdner Museen) (Ich glaube an die Kraft des Dialogs, Frankfurter Allgemeine 5.4.2011)

Am 1. April 2011 eröffnet im Chinesischen Nationalmuseum Peking die umfassende Ausstellung „Die Kunst der Aufklärung“. BMW ist Erster Partner der Kooperation, die von den Staatlichen Museen zu Berlin, den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen präsentiert wird. Das Projekt steht unter der Schirmherrschaft des Deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff und seines chinesischen Amtskollegen Hu Jintao. Die Kooperation ist glanzvoller Höhepunkt des 2005 von Chinas Premierminister Wen Jiabao und Bundeskanzlerin Angela Merkel vereinbarten Programms zum deutsch-chinesischen Kulturaustausch. Zusätzlich bereichert BMW die bis zum Frühling 2012 andauernde Ausstellung mit weiteren Formaten. So wird zusammen mit den Partnerinstitutionen ein Austauschprogramm für junge Kuratoren aus China und Deutschland initiiert, das die beiden Kulturen einander näherbringen soll. Desweiteren bietet ein Jugendkongress die Möglichkeit kulturellen Austauschs. Eine Konzertreihe unter dem Titel „Die Musik der Aufklärung“ rundet das Programm ab. (BMW Gropu Press Club - Webseite, abgefragt 5.4.2011)

Anderthalb Stunden stehen die Besucher an diesem Dienstagmorgen Schlange, um in Pekings Nationalmuseum zu gelangen. Beim Warten können sie über den Platz des Himmlischen Friedens schauen. Am Eingang herrschen Sicherheitsvorkehrungen wie am Flughafen. Der Eintritt ist kostenlos.
Die Ausstellung, deretwegen die Massen anstehen, ist keineswegs die „Kunst der Aufklärung“, jene 600 Werke umfassende Gemeinschaftsschau der Staatlichen Museen zu Berlin, Dresden und München, die am 1. April von Außenminister Guido Westerwelle eröffnet wurde und den deutschen Steuerzahler zehn Millionen Euro kostet. Die Besucher kommen für ein Aufklärungsprojekt der anderen Art: „Der Weg zur neuen Blüte“ heißt die vom Propagandaministerium entworfene patriotische Erziehungsmaßnahme, durch die täglich tausende Chinesen geschleust werden.
Ein Best-of volksrepublikanischer Selbstüberhöhung soll die Liebe zur Kommunistischen Partei festigen und das Misstrauen gegenüber dem Ausland schüren. „Mutterland, ich bin stolz auf dich!“, schreibt ein Besucher beseelt ins Gästebuch. Ein Sechstklässler strahlt: „China ist eine so großartige Nation.“ Von Aufklärung keine Spur, Frankfurter Rundschau 19.04.2011


Die von den deutschen Medien so kritisierten Herren der Staatlichen Museen in Berlin, Dresden und München sagen dazu beschwörend und autosuggestiv: Es geht wie einst bei der DDR oder Sowjetunion um den „Wandel durch Annäherung“, und China wandle sich trotz Rückschlägen atemberaubend schnell. Doch diese Annäherung fällt schwer, im Moment. Gerade wurde ausländischen Korrespondenten in Peking verboten, chinesischen Besuchern der „Kunst der Aufklärung“ ohne polizeiliche Genehmigung überhaupt Fragen zu stellen. (Kritik und Kotau, Der Tagesspiegel 5.4.2011)

Es ist das Paradox eines sich aufklärerisch gerierenden Kunstbetriebs, dass er zwar auf die Aura 'kritischer Hinterfragung' und allgemeiner Bewusstseinsbildung setzt, sich aber im gleichen Atemzug einem Regime andienen kann, das die legitimen Nachfolger einer aufklärerischen Kunst verschleppt und misshandelt. (Aufklärung in Marmor, Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.4.2011)

Damit weitet sich die Repression aus, die nicht nur in Peking, sondern in vielen Teilen Chinas zu Verhaftungen geführt hat: In den vergangenen Wochen sind nach Informationen von Menschenrechtlern in China Dutzende Anwälte, Schriftsteller, Journalisten und Internetkommentatoren festgenommen oder unter Hausarrest gestellt worden. Außerdem verschwanden mehrere prominente Bürgerrechtler, darunter auch der Anwalt Teng Biao. Die Sorge ist groß, dass sie in Polizeihaft gefoltert werden. (Ausweitung der Repressionszone, taz 4.4.2011)

Als vergangene Woche bei einer Diskussionsveranstaltung zur Aufklärungs-Ausstellung in Peking kritisch nachgefragt wurde, warum Tilman Spengler die Einreise verweigert wurde, gab es, wie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung berichtet, Buhrufe von deutschen Wirtschaftsführern gegen den Fragesteller. Das kann man ebenso erschreckend wie verständlich finden: Für deutsche Autohersteller, wie sie auch diese Ausstellung fördern, stellt sich die Frage, ob man sich mit dem Regime in Peking gutstellen sollte, nicht, schließlich ist China mit 13,6 Millionen Neuzulassungen pro Jahr gerade zum wichtigsten Absatzmarkt der Welt geworden. (Aufklärung in Marmor, Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.4.2011)

Dabei hätten doch die chinesischen Behörden allen Grund zur Zufriedenheit, denn die von dem Generaldirektoren-Trio - bestehend aus dem Berliner Michael Eissenhauer, dem Dresdner Martin Roth und dem Münchner Klaus Schrenk - konzipierte Aufklärungsschau ist so solide, bieder-historisch geraten, dass man nur schwer auf den Gedanken kommt, bei der Aufklärung handele es sich um eine noch immer aktuelle Idee, gar um ein unabgeschlossenes Projekt. (Die Freiheit im Museum gestrandet, Berliner Zeitung 5.4.2011)

Der Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Martin Roth (siehe Interview unten), versteht das Unbehagen nicht.
„Wir sind keine politische Institution“, erklärte er schon am vergangenen Donnerstag. Angesichts der Verhaftung Ais, mit der auch der zur Eröffnung angereiste, höflich aufs Thema Menschenrechte pochende deutsche Außenminister brüskiert wurde, ist aber sehr fraglich, ob die Idee einer diplomatischen, auf Untertöne und subtile (für viele Besucher gar nicht dekodierbare) Botschaften der Bilder setzenden Ausstellung aufgeht - in einem Moment, da das Regime in Peking deutsche Journalisten festsetzt, die über die Jasmin-Proteste berichten wollten, Liu Xiaobo wegen „Untergrabung der Staatsgewalt“ zu elf Jahren Haft verurteilt hat, den bekanntesten Gegenwartskünstler Chinas krankenhausreif schlagen und unbekanntere Künstler wie Wu Yuren ungehindert im Knast verschwinden lässt. (Aufklärung in Marmor, Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.4.2011)

Durch das geschilderte Timing der Festnahme freilich führt man so zynisch wie selbstbewusst auch den Westen vor – und in diesem Fall besonders die Deutschen. Eben noch kriegen die ihren mit zehn Millionen Euro des Auswärtigen Amts selbst bezahlten Auftritt im wiedereröffneten Nationalmuseum; eben noch wurden die Ausstellung und ihre sie begleitende (begleiten sollende?) Diskussionsreihe „Aufklärung im Dialog“ als „Meilenstein“ der intensivierten gegenseitigen Beziehungen bezeichnet. In solchem Einklang präsentierten sich Westerwelle und die Museumsdirektoren aus Berlin, Dresden und München mit ihren chinesischen Kollegen, an erster Stelle mit der dem Kulturminister übergeordneten Politbüro-Staatsrätin Liu Yandong. (Kritik und Kotau, Der Tagesspiegel 5.4.2011)

In Dresden ist der Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen, Martin Roth, ein schwäbischer Porschefahrer. Als einer der verantwortlichen Museumstiger - wie die Direktoren in Peking gern tituliert wurden, obwohl sie doch nur wie Museums-Tigerenten daherwatschelten - hat er sich nun in der Zeit zu Kulturaustausch und zur Festnahme des Künstlers Ai Weiwei geäußert: "Der ist ja bei den Medien vor allem nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil er ständig draufhaut. Furchtbar natürlich, dass er verhaftet wurde. Aber warum sind alle so auf ihn fixiert? Es gibt hunderte Künstler wie ihn, über die spricht aber keiner, weil sie keine Popstars sind."
Nun ist es außerordentlich erfreulich, zu hören, dass Martin Roth jetzt auch für die hundert anderen Künstler die notwendige internationale Öffentlichkeit herstellen möchte, die ebenso wie Ai Weiwei von der chinesischen Obrigkeit kujoniert werden, wenn nicht ihre Ateliers gleich zerstört und ihre Mitarbeiter festgenommen werden! Etwa für die Pekinger Künstler Huang Xiang, Zhui Hun, Cheng Li und Guo Gai, die Mitte März festgenommen wurden und im Taihu-Gefängnis im Distrikt Tongzhou festgehalten werden. (Dresdener Provinzler, neue Folge, taz, 9.4.2011)

"Wie eng Roth selbst Ökonomie, Politik und Kultur verflochten sieht, zeigt sich in seiner bizarrsten Bemerkung der letzten Tage: "Ohne China müsste die Phaeton-Produktion“ – eine Luxuslimousine, die in Dresden gebaut wird – "eingestellt werden. Diese Diktatur gibt uns in unserer Demokratie Lohn und Brot.“ Ausgestreckte Hand, blutig, FAZNet 11.04.2011

"Es verwundert und betrübt mich sehr hören zu müssen, dass ein deutscher Museumsdirektor und Kollege sich offenbar nicht mit der Bewegung solidarisiert, die sich für die Freilassung Ai Weiweis einsetzt. Gerade hat sich die Solomon R. Guggenheim Foundation an die Spitze einer internationalen Bewegung des Museen gesetzt, um den Protest der Kunstwelt zum Ausdruck zu bringen."  Hans Ulrich Obrist in DIE WELT, 11.4.2011 (nicht onlinie).

"Umso schlimmer, wenn der Leiter einer durch staatliche Subventionen gesicherten Institution, wie es die Dresdner Sammlungen sind, einem Unrechts- und Gewaltsystem beipflichtet. Martin Roth hat den deutschen Kulturbetrieb desavouiert. Er hat sich zu entschuldigen. Er muss sich für Ai Weiwei einsetzen. Sonst hat er in Peking nichts verloren, kann er seine Kunstschätze zurückholen.
Museum trifft Aufklärung: Beide tot." (Chinesisches Roulette. Kultur und Moral, Der Tagesspiegel, 10.4.2011)

"Wie so üblich in erhitzten öffentlichen Debatten braucht es ein Gesicht, das die Angriffe der Empörten bündelt. Diesmal ist es Martin Roth, der Generaldirektor der Dresdner Kunstsammlungen. Schon lange nicht mehr ist das deutsche Feuilleton so einmütig über einen einzelnen Museumsmann hergefallen. Roth ist ein zupackender Macher, der Gewaltiges geleistet hat beim Ausbau der Dresdner Museumslandschaft, und auch für deren Wahrnehmung in aller Welt. Er war nie ein Leisetreter, nie einer, der sich wie die meisten seiner Kollegen hinter wohlabgewogenen Verlautbarungen verschanzt. Er sagt, was er meint. Und in diesem Fall heißt das: Er glaubt fest an die Möglichkeiten des Kulturaustauschs, auch mit diktatorischen Systemen." Nie wieder China?, Berliner Zeitung 12.04.2011

"Zu China war zu hören: Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, an dem auch deutsche Architekturbüros kräftig verdienten, würden der allgemeine Lebensstandard, die Bildungschancen und so auch automatisch die Chancen einer Demokratisierung steigen. Diese lineare Erzählung ist spätestens mit Ai Weiweis Verschleppung als Illusion enttarnt. Sichtbar wird jetzt eine andere, dunklere Wahrheit. Wie vor einer Woche in dieser Zeitung berichtet, wurde ein deutscher Journalist, der bei einer Veranstaltung zur Aufklärungsausstellung eine kritische Frage stellte, ausgebuht – von deutschen Wirtschaftsführern. Deutsche Autohersteller fördern die Schau, und es gehört zu den unangenehmen Wahrheiten, dass Autobauer wie BMW ohne den chinesischen Absatzmarkt langfristig in eine bedrohliche Situation kommen würden. Auch die internationale Politik ist gegenüber China fast machtlos. Chinesische Finanzexperten drohten offen damit, dass China seine 1,33 Billiarden Dollar an offiziellen Währungsreserven als politische Waffe einsetzen könne.Das einzige Feld, auf dem noch keine existentiellen Abhängigkeiten existieren, ist die Kultur. Und gerade deshalb hätte man sich gewünscht, dass wenigstens einer der Generaldirektoren irgendwann aufgestanden wäre und den sogenannten Wirtschaftsführern gesagt hätte, wie sehr er sich für sie schäme." Ausgestreckte Hand, blutig, FAZNet 11.04.2011

Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller "Es kommt mir vor, als würde die deutsche Kulturpolitik regelrecht winseln um Anerkennung durch China", sagte die 57-Jährige dem Nachrichtenmagazin "Focus". "Ich verstehe nicht, weshalb es die Deutschen sein müssen, die als Allererste Werke für eine Ausstellung in diesem Museumsklotz liefern, der doch nur ein Prestigeobjekt des Regimes ist." Die Bilder seien nun "Dekoration für eine Propagandashow eines autoritären Regimes". DIE WELT, 11.4.2011

"Raimund Stecker, Direktor des Wilhelm-Lehmbruck-Museums in Duisburg: 'Herr Roth steht jedenfalls offensichtlich auf der falschen Seite, nämlich der der Dekoration der Macht statt auf der der aufklärerischen, subversiven Kraft der Kunst. Wir brauchen die 'Popstars' der Kultur - Philosophen wie Kant und Künstler wie Ai Weiwei.'" (Wandel durch Anbiederung, DIE WELT 11.4.2011).

"In dem Katalog-Beitrag zweier chinesischer Wissenschafter kommt man allerdings zu dem interessanten Schluss, dass der Kommunismus die Ausweitung, um nicht zu sagen die Krönung der Aufklärung sei. «Lassen wir es sein, Aufklärung ist Unsinn», sagt der alte Schauspieler in Thomas Bernhards Stück «Einfach kompliziert». Vielleicht aber sollte man einmal vor den schmalen, schwarzen Schuhen aus dem persönlichen Besitz des Philosophen (Immanuel Kant Anm.GF) ein Schild mit dem Satz «These boots are made for walking» aufstellen". Bei Licht besehen. «Die Kunst der Aufklärung» im neu eröffneten Nationalmuseum Peking, NZZ, 11.4.2011

"'Aufklärung ist kein kunsthistorischer, sondern ein kulturgeschichtlicher Begriff', sagt Michael Eissenhauer, der Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin." (…) "Man hätte ja "die Kunst der Aufklärung" auch mit einem Augenzwinkern interpretieren können, als politisches Kunststück, über die Wirklichkeit durch Kunst aufzuklären. Genau das wird dementiert. "Es handelt sich um eine Kunstausstellung, nicht mehr und nicht weniger", heißt es, natürlich wider besseres Wissen. Fragt sich nur, warum das Auswärtige Amt so viel Geld in eine Schau steckt, deren Kunstwerke irgendwie nicht politisch aktuell sein wollen und es wohl auch gar nicht können." (Die Kunst des Gähnens, DIE WELT, 31.3.2011) 

Nach der Verhaftung des regimekritischen Künstlers Ai Weiwei in China hat das Haus der Kunst in München die Zurückhaltung deutscher Museumsdirektoren scharf kritisiert. Der Hauptkurator des Hauses, Ulrich Wilmes, warf dem Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden "Bagatellisierung" vor und nannte dessen Äußerungen "menschenverachtend".
Martin Roth hatte sich zuletzt mit Kritik an China zurückgehalten und in einem Interview mit der "Zeit" unter anderem gesagt: "Es gibt Hunderte Künstler wie ihn, über die spricht aber keiner, weil sie keine Popstars sind." (…) "Von solchen relativierenden Äußerungen möchten wir uns als Haus der Kunst deutlich distanzieren", betonte Wilmes. (Webseite 3sat, 8.4.2011)

"Ein Nobelpreisträger sitzt für elf Jahre im Knast, die wichtigste Figur der chinesischen Kunstszene wird verschleppt - und die Vertreter der deutschen Kultur sitzen mit eingezogenen Köpfen da und zeigen auf die Hausschuhe von Immanuel Kant, die sie in der Ausstellung geparkt haben." FAZ, 10.4.2011 (nicht online)

"Der Chef der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, eines der Museen, die in Peking die Schau zur „Kunst der Aufklärung“ organisiert haben, übt in der „Zeit“ fleißig den Kotau. Ai Weiwei, so wird Roth dort zitiert, sei bei den westlichen Medien „deshalb so beliebt, weil er ständig draufhaut.“ Im Übrigen: „Es gibt Hunderte Künstler wie ihn, über die spricht aber keiner, weil sie keine Popstars sind.“ Da klingt blanke Verachtung durch für zeitgenössische Kunst, wird ein Mensch getreten, der am Boden liegt. Museumspolitik ist Roth wichtiger als Menschenrechte.
Da schließt sich der ökonomische Kreis. Der chinesische Milliardenmarkt lockt nicht nur Autobauer und Architekten. Auch die großen Museen, von New York bis Paris und von London, zieht es an die Geldquellen – nach Peking ebenso wie in die Emirate am Persischen Golf. Internationale Museen, allen voran das Guggenheim, werden heute geführt wie Unternehmen. Sie operieren international und zunehmend profitorientiert. Marketing geht vor Moral." (Chinesisches Roulette. Kultur und Moral, Der Tagesspiegel, 10.4.2011)

"Warum? Was haben die Dresdner Kunstsammlungen von guten Beziehungen zu Peking?
Roth: Dasselbe wie von guten Beziehungen mit dem Metropolitan Museum, dem Prado, Getty und so weiter: einen wissenschaftlichen kuratorischen Austausch, den wir über viele Jahre pflegen und ausbauen wollen." (...)
"Sie haben geschrieben: 'Ohne China müsste morgen die Phaeton-Produktion eingestellt werden. Diese Diktatur gibt uns in unserer Demokratie Lohn und Brot.' Warum ist es so wichtig, dass deutsche Museen in China ausstellen? Damit sie die Produktion des VW-Luxusautos Phaeton ankurbeln?
Roth: Ganz einfach. Weil die maximal 40 Museen von gleichem Rang und ähnlicher Bedeutung weltweit natürliche Partner sind – zum Nutzen der Bildung und des besseren Verständnisses jenseits von politischen Barrieren. Was soll Volkswagen damit zu tun haben? Ich freue mich, dass Volkswagen die Tournee der Sächsischen Staatskapelle in China gesponsert hat, die auch bei der Eröffnung gespielt haben." "Diese Auftritte haben etwas sehr Absurde". Martin Roth im Interview mit "Der Freitag", 14.04.2011

"Der Fall Ai wird in Deutschland immer mehr zu einer Diskussion über unsere kulturelle Außenpolitik und den Sinn der Kooperation mit totalitären Regimen. Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts, forderte die Freilassung Ais; Martin Roth, Generaldirektor der Staatlichen Museen Dresden, verhöhnt ihn dafür in der "Sächsischen Zeitung“: ",Lehmann fordert die Freilassung von Ai Weiwei . . .‘ Na, da wird die chinesische Staatssicherheit aber das Zähneklappern bekommen! Bleiben wir doch bei der Realität und dem Machbaren!“ So wüst war der Ton lange nicht mehr.
Was bedeutet Ais Verhaftung für uns? Michael Eissenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, der das Projekt von seinem Vorgänger erbte, nannte Ais Verschleppung einen Widerspruch zu allem, "worum es in der Ausstellung geht“, und kaum erträglich. Martin Roth, der vor zwei Jahren in der "Welt“ von "vielen Gesprächen, viel Humor, viel Vertrauen und viel Maotai-Schnaps“ bei seinen Chinatouren schwärmte, bekundet dagegen in der "Zeit“, Ais Verhaftung sei sicher "furchtbar“ – Ai sei jedoch unter anderem "bei den Medien“ auch deshalb "so beliebt, weil er ständig draufhaut“. Soll das heißen: Selber schuld? Man braucht einen robusten Humor, um einem Künstler, der bei seiner letzten Verhaftung 2009 fast totgeprügelt wurde, zu konzedieren, er haue halt gern drauf – denn draufgehauen hatte das letzte Mal der chinesische Staat." Ausgestreckte Hand, blutig, FAZNet 11.04.2011

"Der Westen mag sich über das Vorgehen gegen den Künstler und Regimekritiker empören, doch die chinesischen Behörden halten unbeirrt an ihrem Vorgehen fest. Wie am Dienstag bekannt wurde, sind jetzt Ai Weiweis Studiopartner und sein Buchhalter festgenommen worden. Seine Frau wurde von der Steuerbehörde vorgeladen. Die chinesischen Behörden werfen dem Künstler ein "Wirtschaftsverbrechen" vor, wobei nicht genau bekannt ist, worin das Verbrechen eigentlich besteht. Unterdessen hat Chris Dercon, der Direktor der Tate Modern, mehr Solidarität von den deutschen Museen gefordert. Im Rahmen der von Deutschland organisierten Ausstellung "Kunst der Aufklärung" in Peking müssten hiesige Kunst- und Kultureinrichtungen deutlicher auf die Situation von Ai Weiwei aufmerksam machen. Menschenrechte. Neue Festnahmen im Fall Ai Weiwei, Die Welt 13.04.2011

"Der nun lauter werdende Ruf nach einem Abbruch der Ausstellung demonstriert politische Entschlossenheit und beansprucht die Überlegenheit eines moralischen Rigorismus. Wer für einen Verbleib der deutschen Kunst in Peking votiert, macht sich indes verdächtig, sich einem windelweichen Appeasement anzudienen, das vor der ökonomischen Attraktivität Chinas in die Knie geht. Hatten die Museumsdirektoren einen emphatischen Aufklärungsbegriff im Gepäck, so müssen sie sich nun die Frage gefallen lassen, ob sie als bloße Dekorateure einer willkürlich agierenden Macht zurückgekehrt sind." (...) "Die „Kunst der Aufklärung“ sollte nicht geschlossen, sondern zum Ausgangspunkt einer kulturpolitischen Debatte gemacht werden, wie künftig den Herausforderungen begegnet werden kann, die Globalisierung, Kolonialerbe, Kulturalismus und Menschenrechte immer wieder neu stellen. Nicht abhängen, sondern höher hängen, muss nun die Devise lauten."  Höher Hängen, Frankfurter Rundschau 14.04.2011
 "Die Ausstellung über die "Aufklärung" in Peking sollte abgebrochen werden, schreiben Roger M. Buergel und Ruth Noack, Leiter der Documenta 2007. Denn es ist eine "Ausstellung, die ohne Not die kostbarste Errungenschaft des Westens am Platz des himmlischen Friedens verschachert und, auch das eine Kunst, diesen Ausverkauf selbst finanziert. Das eigene deutsche - sprich: gebrochene - Verhältnis zur Aufklärung ist in dieser Ausstellung kein Thema. Und so ist auch der Dialog, den die drei Generaldirektoren bemühen, keiner. Es gibt kein Gegenüber, mit denen die drei reden (ausgenommen „die geschätzten Kolleginnen und Kollegen in Peking“) Dieses „Kulturprojekt“ gehorcht der Logik der Funktionäre und der Vitrine oder besser des Gefrierfachs – eine Logik, der sich Ai Weiwei in seiner vielgestaltigen, stets lebendigen Produktion, zumal mit seinen Blog-Aktivitäten, entzogen hat." (...) Wer China und die Strukturen des größten Museums der Welt samt seiner kuratorischen Expertise für Geschichtsklitterung kennt, kann dagegen über den kulturpolitischen Rettungsversuch nicht einmal müde lächeln. Hier ist nichts zu retten, hier tut Aufklärung not, und das heißt vor allem: Selbstaufklärung." Diese Ausstellung muß geschlossen werden, FAZ 12.14.2011

Die Forderung, die Ausstellung in Peking aufgrund der aktuellen Vorkommnisse zu schließen, macht keinen Sinn: Soll das Auswärtige Amt in allen Ländern mit totalitären Regimes seine Goethe-Institute schließen? Sollen Orchester ihre Konzertreisen einschränken? Sollen studentische, wissenschaftliche, technische Austauschprogramme eingestellt werden? Hätte die Rocklegende Bob Dylan nicht in Peking auftreten sollen? Von den Aktivitäten aus dem Bereich Wirtschaft und Technologie ganz zu schweigen. Wie wollen wir die Kultur, die Werte, das Verständnis eines Landes und seiner Bevölkerung kennen- und schätzen lernen, wenn wir uns weigern, mit ihm zu kooperieren? Nichtstun ist keine Alternative! Für Museen ist es eine Selbstverständlichkeit, Beziehungen zu den Herkunftsländern ihrer Sammlungen - auch mit totalitären politischen Systemen - zu unterhalten und zu pflegen. Kulturprojekte sind nicht nur grenz-, sondern auch systemüberschreitend. Michael Eissenhauer, Martin Roth und Klaus Schrenk: Was bedeutet Ali Weiweis Verhaftung für uns? Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.04.2011

"Die Ausstellung, die als epochales Kulturereignis "mit einer politisch-aufklärerischen Agenda" angekündigt wurde, verfehlt ihr elementarstes Ziel: Ihr fehlen die Besucher. Läuft man durch die leeren Hallen des Museums, sieht man eine Schau, die ihren Anspruch selbst demontiert. Am Mittwoch dieser Woche, vierzehn Tage nachdem Außenminister Guido Westerwelle auf der Ehrentribüne unter einem weithin sichtbaren "Die Kunst der Aufklärung"- Banner saß, wird weder außen noch innen für die Ausstellung geworben. (...) Auf alle, die dann doch noch zu "Die Kunst der Aufklärung" in einem Eckflügel im zweiten Stock finden, wartet eine weitere Überraschung. Sie müssen sich eine Eintrittskarte für 30 Yuan (3,50 Euro) kaufen. "Das ist auch ein Grund für den schwachen Besuch", sagt eine Museumsangestellte. 'An Werktagen kommen im Durchschnitt 200 Personen, am Wochenende sind es 400.'" Aufklärung unter Ausschluß der Öffentlichkeit, DIE WELT, 14.04.2011

Eine der bemerkenswertesten Stellungnahmen: Tilman Spengler, der von China noch vor der Ausstellungseröffnung ausgeladene Wissenschafter. "Wir haben es hier mit einer Ausstellung zu tun, die das betreibt, was Adorno, Horkheimer, Marcuse, wohl auch Walter Benjamin einmal als "Flaschenpost" bezeichneten. Es werden Botschaften nach Peking gesandt, die enträtselt werden müssen wie das Paar Schuhe des Aufklärers Kant. Wir dürfen unseren Kollegen vor Ort zutrauen, dass sie diese Aufgabe wahrnehmen. Abbrechen ist so doof wie verbieten - sehr weit weg von Aufklärung." Tilman Spengler: Flaschenpost nach China, Süddeutsche Zeitung, 14.04.2011 

Eine vorzeitige Schließung der Ausstellung wäre das, was man allgemein als Symbolpolitik bezeichnet. Der Stopp würde China nicht wirklich hart treffen. Das Ende der Schau wäre ebenso wenig wie der Protest eine Garantie dafür, dass Ai Weiwei freikommt. Aber es wäre ein Affront gegen die Machthaber in Peking. Sie wären vor der Weltöffentlichkeit blamiert.  Wenn es still wird in Deutschland, in: taz 18.4.2011


"Die Annahme, die der Ausstellung zu Grunde liegt, ist falsch. Die Ausstellungsmacher dachten, dass sie mit Gemälden von Caspar David Friedrich, Goya, Gainsborough, aber auch mit den Hausschuhen des Philosophen Immanuel Kant den Chinesen Demokratie nahe bringen würden. Immerhin ist die Aufklärung eine der entscheidenden Epochen jener europäischen Geschichte, die das Individuum zunehmend ins Zentrum der Politik stellt, Wissenschaft und Technik in den Vordergrund rückt und Menschenrechte sowie politische Gleichheit betont. Diese Ideen bildeten die Grund­pfeiler der US-amerikanischen Unabhängigkeit und mündeten in die Französischen Revolution. Warum nicht den Freiheitsgedanken über Ausstellungsstücke aus dieser Epoche nach China bringen? Immerhin ist auch die Idee, dass Kunst die Menschen und die Gesellschaft verändern kann, ein Gedanke der Aufklärung.
Doch schon dieser Gedanke zeigt: Die Macher haben sich nicht ausreichend mit der Situation Chinas beschäftigt. Hätten sie das getan, wäre ihnen aufgefallen, dass für Chinas Regime Diktatur und Aufklärung keineswegs im Widerspruch stehen. Im Gegenteil: Die Kommunistische Partei sieht sich ganz in der Tradition der Aufklärung. Mao selbst, aber auch die jetzige Führungsriege, beziehen sich seit jeher positiv auf die Ideen der Französischen Revolution. Und hätten die Deutschen einen genauen Blick in den Katalog geworfen, dann hätte ihnen der Beitrag zweier chinesischer Wissenschaftler auffallen müssen. Darin kommen die zu dem Ergebnis, dass der chinesische Kommunismus nichts weiter sei als 'die Krönung der Aufklärung'". Eine Frage der Aufklärung, Der Freitag, 14.04.2011

"Dass Freiheit und Aufklärung mit dem tausendfachen Massaker vom Tiananmen-Platz nicht vereinbar sind, wollen wir nicht bemerken: Anstatt diesen Widerspruch neben einigen anderen in das Ausstellungskonzept zu integrieren und damit eine – Achtung, das P-Wort – Provokation zu riskieren, stellen wir einfach aus: beflissen, kreuzbrav. Eigentlich hätten es auch die üblichen High-Tech-Exportartikel sein können, mit denen unsere Industrie in China ihr Geld verdient. Das wäre immerhin ehrlich gewesen.
An diesem inhaltlichen Desinteresse werden auch die von der Mercator-Stiftung veranstalteten „Salons“ nichts ändern – die nach eigenem Bekunden in ihrer Themenwahl freien, „offenen Diskursräume“. Dazu ist die Indifferenz der repräsentativen Ausstellungsform gegenüber dem historisch-aktuellen Ausstellungsinhalt viel zu mächtig. Und so hat der gleich nach der Ausstellungseröffnung verhaftete und seitdem verschwundene Künstler Ai Weiwei auf seine Weise die passenden Worte gefunden: Die Chinesen würden in der Ausstellung einige „bleichgesichtige Langnasen“ sehen und ansonsten nicht mehr über die deutsche Aufklärung lernen als in Disney World."
  Mutlos, dafür aber kreuzbrav, Frankfurter Rundschau 19.4.2011

Die Frankfurter Rundschau berichtet über eine Veranstaltung in der Akademie der Künste in Berlin, wo "Hermann Parzinger" die Frage stellt, was denn schiefgelaufen ist und so beantwortet: "Man habe die Ausstellung zu hoch gehängt. Es sei die größte Ausstellung, die die Bundesrepublik Deutschland jemals außer Landes geschickt habe. Das Auswärtige Amt sei mit 6,6 Millionen Euro in die Aktion eingestiegen. Die Runde war sich bald einig: Die Ausstellung ist zu gigantisch. Ihre Staatsnähe ist das Problem. Zu viele Minister könnte man sagen: zu viele Minister auf beiden Seiten."
Mutlos, dafür aber kreuzbrav, Frankfurter Rundschau 19.4.2011

"Der Minister (Kulturstaatsminister Bernd Neumann. GF) geht noch weiter: Er liest den für die Pekinger Schau verantwortlichen Museumsdirektoren aus Berlin, Dresden und München die Leviten, kommt auf die von Klaus-Dieter Lehmann beobachteten „weichgespülten Floskeln“ bei der Eröffnung zu sprechen, die sich für die Chinesen angehört hätten „wie die Sprache der eigenen Funktionäre“. Vor allem kritisiert er den federführenden Dresdner Museumschef Martin Roth für seine gegenüber China „anbiedernden“ Kommentare zum Fall Ai Weiwei: Das sei die „Verhöhnung eines mutigen und bedeutenden Künstlers“. Roths Namen nennt er nicht, aber der Adressat ist klar."
Freiheit und Feigheit, in: Der Tagesspiegel, 28.04.2011

 













"Wir leben im Zeitalter der Verrücktheit". Süddeutsche Zeitung 5.4.2011 

Die Feigheit der Aufklärer, taz 6.4.2011

Dresdener Provinzler, neue Folge, taz, 9.4.2011

Michael Eissenhauer, Martin Roth und Klaus Schrenk: Was bedeutet Ali Weiweis Verhaftung für uns? Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.04.2011  

Bei Licht besehen. «Die Kunst der Aufklärung» im neu eröffneten Nationalmuseum Peking, NZZ, 11.4.2011

Ausgestreckte Hand, blutig, FAZNet 11.04.2011 

Nie wieder China?, Berliner Zeitung 12.04.2011

Höher Hängen, Frankfurter Rundschau 14.04.2011

Diese Ausstellung muß geschlossen werden, FAZ 12.14.2011 

Aufklärung unter Ausschluß der Öffentlichkeit, DIE WELT, 14.04.2011 

Tilman Spengler: Flaschenpost nach China, Süddeutsche Zeitung, 14.04.2011 

"Diese Auftritte haben etwas sehr Absurde". Martin Roth im Interview mit "Der Freitag", 14.04.2011 

Eine Frage der Aufklärung, Der Freitag, 14.04.2011 

Wenn es still wird in Deutschland, in: taz 18.4.2011
 


Mutlos, dafür aber kreuzbrav, Frankfurter Rundschau 19.4.2011 

Freiheit und Feigheit, in: Der Tagesspiegel, 28.04.2011