Donnerstag, 29. Mai 2014

In eigener Sache. Grenzüberschreitung und Verwunderung

Dieses Monat wird der Blog zum ersten Mal 10.000 Besuche haben.
Ich weiß nicht, ob das nun viel ist oder wenig, ich habe nur den Vergleich zu früheren Jahren, wo ich mir das nicht hätte vorstellen können. Wahrscheinlich werden es sogar 11.000 sein.
Erstaunlich ist etwas anderes, wofür ich keine Erklärung habe. Die Herkunft der Leser und Nutzer. Obwohl ich mit wenigen Ausnahmen auf Deutsch schreibe, sind es nicht die deutschsprachigen Länder, die die Statistik dominieren, abgesehen von Deutschland. Dieses Monat sieht das Landerranking die USA an zweiter Stelle, dann Norgwegen, dann erst Österreich und an fünfter Stelle - Indien. An zehnter kommt die - Ukraine. Belgien, Schweden, Frankreich, England, Italien, Russland, die Schweiz, die Niederlande, fast alles Länder, wo man stark wirkende Sprachbarrieren vermuten könnte, bilden mit den genannten Ländern den Grundstock der Leserschaft. Sicher, die - von mir gesuchte und forcierte - Bildlastigkeit erleichtert die polyglotte Nutzung, aber es gibt noch eine weitere Erfahrung, von Anfang des Bloggens an: es sind gerade schwierigere, längere und anspruchsvollere Texte, die am häufigsten gelesen werden und insofern am Nachhaltigsten wirken, als sie immer wieder und auch nach Jahren abgerufen werden.
Die gelegentlich geführte Debatte über die akademische Akzeptanz des Bloggens muß mich nicht interessieren, schon gar nicht, seit ich nach Beendigung meiner beruflichen Karriere keine einschlägigen Rücksichten wahrnehmen müsste (die ohnehin kaum je hatte). Es ist ja gerade mein Hauptvergnügen, mit einem Sschreiben zu experimentieren und mit einer Verbindung von Bild und Text, die sich an akademische Regeln nicht halten muß ohne sie ganz zu negieren.
In einem ist Bloggen klar dem akademischen Publizieren überlegen. Mit keiner deutschsprachigen Publikation würde ich (noch dazu extrem kurzfristig, also auch, wenn es mal wichtig ist, aktuell), derart international wahrnehmbar sein und - wie die genannten statistischen Daten zeigen -, auch wahrgenommen werden.
Regelmäßig, so etwa alle ein zwei Monate, freue ich mich über meinen Leser (oder sind es gar zwei?) auf Fiji...

Museumsszene: Afganisches Nationalmuseum Kabul

Museumsszene. Eremitage St. Petersburg

Mittwoch, 28. Mai 2014

O.T. (Texte im Museum 483)

Frequently asked, but never answered (Texte im Museum 482)

MAK Design Labor. Museum für Angewandte Kunst 2014 (Foto: GF) - Eine der simpelsten Fotmen der Beteilung des Publikums ist die Schaffung von Plätzen für Meinungsäußerungen, hier eine "Schultafel" mit einer vorgegebenen Frage. Vom Löschen der Kreideschrift macht das Personal Gebrauch, wenn das "Gepostete" gegen die guten Sitten verstößt. In diesem Fall waren die "Kontrollore" ganz zufrieden, und es törte sie nicht, daß so gut wie keine der "Antworten" etwas mit der Frage zu tun hatte. Partizipation? Alibi? Was auch immer.

Dienstag, 27. Mai 2014

Die USA haben ein Nationalmuseum. Das 9/11 Memorial Museum


Nicht der Bürgermeister von New York und nicht der Gouverneur hat es eröffnet, das 9/11 Memorial Museum, sondern Präsident Obama. Selbstverständlich, denn das Ereignis, dem es gewidmet ist, war ein nationales Trauma, eine nationale Katastrophe und eine tiefe und symbolische Verletzung des amerikanischen Selbstbewusstseins und Selbstverständnisses.
Einen Ort der Heilung soll Obama das Museum genannt haben[1] und alles, was ich über das Museum gelesen habe oder was in Fernsehberichten an Ausschnitten von Reden zu sehen war, deutet darauf hin, daß dieses Museum eine in ganz emphatischen Sinn nationale Bedeutung hat und haben wird. Wahrscheinlich in einem Ausmaß, wie das kein anderes Museum der USA je hatte und hat.
Das Museum bildet mit dem Mahnmal, das sich exakt über den Grundrissen der verschwundenen Türme des World Trade Center befindet und mit der umgebenden Bepflanzung ein architektonisches und symbolisches Ensemble bildet. Das 2011 fertiggestellte Mahnmal, das den Namen reflecting absence hat,  besteht aus zwei Becken, in die Wasser hinabstürzt, gesammelt und abgeleitet wird. Beide Becken sind mit einer Kupferumrandung gesäumt, in die die Namen der Toten (mit Ausnahme der Terroristen) eingestanzt sind. Darunter befindet sich ein Pavillon, wo noch einmal die Namen der Toten zu finden sind.[2]

Zwei essentielle Merkmale kollektiver Identität sind mir aus den Reden zur Museumseröffnung in Erinnerung geblieben. Aus der einer Angehörigen, wie sehr das Ereignis mit dem Zusammenhalt der Nation beantwortet worden wäre, und aus der Rede Obamas, der Verweis auf das feste Fundament, auf der die Nation ruhe. Und das nicht nur rhetorisch, sondern buchstäblichen, unterstützt vom Verweis auf die gewaltigen Spundwände, die als Teil des Fundaments der Twin-Towers des World Trade Center das Grundwasser abschotteten und nun Teil des Museums und Ausstellungsobjekt sind.
Gründung und Gemeinsamkeit als Grundfiguren des nationalen Wir. Aber auch mehr als das: Widerstandsfähigkeit und -willen als nationale Agenda. 
Im deutschen Feuilleton wird vom Museum berichtet, wie sehr von der Gestaltung Emotionalisierung bewirkt wird und dagegen die Information zur Vor- und Nachgeschichte der Ereignisse in den Hintergrund tritt. Das Museum[3] verfolgt aber mit dem inszenierten Abstieg unter die Erde und der relativen Dunkelheit der Museumsräume eine nur begrenzt immersive Strategie. Auf Fotografien sieht es relativ nüchtern und den Usancen historischer Museen folgend aus. Auffallendes und expressives Design hat man vermieden, dagegen gibt es Tableaus mit Objekten, Großobjekte, Texte, Inschriften, Fotografien, Dokumente, einige appellative, große Texte.
Doch hier geht es nicht um konventionelle Objekte. Die Mehrzahl von ihnen trägt sichtbar Spuren der Katastrophe oder ist von ihr kontaminiert. Ausweise, Passbilder, Suchplakate, Geräte, Kleider, Bauteile, ganze Fahrzeuge, Helme, Uniformmützen, von Trümmern getroffene, verformte Sachen, verbeulte Straßenschilder und vieles andere mehr. Solche Dinge haben eine besondere Zeugenschaft, ähnlich Reliquien,[4] und wo sie unmittelbar das Sterben bezeugen, sind es martyrologische Objekte bis hin zu den Stimmen von Personen, die im Wissen ihres sicheren Todes mit ihren Angehörigen oder um Hilfe telefoniert haben. Kann man so weit gehen? Mir fällt dazu nichts Vergleichbares in anderen Museen ein. Sicher, auch in diesem Fall ist es nicht die Stimme selbst, sondern ein gespeichertes Relikt, etwas, das uns durch ein Medium übermittelt wird. Aber das liegt auf der identischen Realitätsebene wie das geführte Telefonat selbst. Hier sprechen die Opfer angesichts ihres Todes und der unausweichlichen Katastrophe direkt zu uns.


Vieles deutet darauf hin daß die Figur des Opfers zentral ist in diesem Museum. Das Wort Opfer ist zweideutig (wofür es in der deutschen Sprache keine Unterscheidung gibt), man kann sich opfern, z.B. für einen Nächsten oder für eine Sache oder eine Gemeinschaft, oder man kann geopfert werden, etwa als in den Krieg geschickter Soldat oder als jemand, dem im Fall der Bedrohung aus Staatsraison nicht geholfen wird. Auch von jemanden bei einem Unfall Umgekommenen sprechen wir ja auch vom Verkehrsopfer.
Hier im Museum kann es nur um das unfreiwillig erbrachte Opfer gehen,[5] zu dem die Toten erst durch nachträgliche Zuschreibung werden. So, vielleicht nur so, kann man ihrem Tod einen Sinn zu geben und das absolut Kontingente der katastrophischen Erfahrung integrieren, zu heilen, wie der Präsident verkündete.
Die fast dreitausend Toten sind unter dem Vorzeichen des Opfers letztlich für etwas zugrunde gegangen, für die Gemeinschaft, für die Nation, der sie weiter in der Erinnerung angehören werden - und zu der sie sogar buchstäblich sprechen (in den Erwähnten Tonaufzeichnungen) -, und für die sie als Opfer auch etwas begründen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit,[6] eine Erfahrung, aus der sich das Nationsbewußtsein regenerieren kann. Ihr Tod mag im Einzelnen furchtbar und sinnlos gewesen sein, letztlich geht er auf im Überleben des Ganzen, der Gesellschaft, der Nation. 


Eine ostentativ platzierte und aus dem Stahl der Ruinen modellierte Inschrift bringt das auf den Punkt: „No day shall erase you from the memory of time.“ Das ist das Angebot an die Opfer, ihr Überleben im Gedächtnis, das noch dazu zeitlos sein wird. Und es ist ein Angebot an die Nachgeborenen. Nämlich ihre kollektive Identität aus der Erinnerung an die Toten reproduzieren zu können.[7]
Obwohl ich das Wort Opfer in den Berichten über das Museum nirgendwo gefunden habe, so denke ich, daß man ohne es hier einzuführen, den umstrittensten Raum des Museums und die Entscheidung ihn trotz vieler Bedenken und Einwände, einzurichten, nicht verstehen kann. Es ist ein für jegliches Publikum unzugänglicher, hinter der Mauer mit der erwähnten Inschrift liegender Raum. Dort werden die unidentifizierbaren Überreste von Menschen aufbewahrt, die aus der Katastrophe geborgen wurden. Ungefähr ein Drittel aller Toten scheint nicht identifiziert zu sein. Daneben liegt ein den Opferangehörigen vorbehaltener „reflection room“
„Wie viele Friedhöfe haben einen 24-Dollar-Eintritt und verkaufen T-Shirts und Souvenirs? Wie viele Themenparks bringen uns den Tränen nahe?[8] Solche vorwurfsvolle Fragen reißen nicht ab und werden auch jetzt, nach der Eröffnung des Museums gestellt.
Opfer sind häufig Rituale, mit denen Gemeinschaften sich begründen, erneuern und ihre Identifizierung bewirken. Es ist der Gedanke naheliegend, daß dieser Gruftraum - nicht Friedhof, nicht Prosektur, nicht Ausstellung -, diese Funktion hat. Die zahllosen Grabmäler unbekannter Soldaten sind alle einem pars pro toto verpflichtet. Der Unbekannte (solche Denkmale können leer sein oder den Körper eines nicht Identifizierten enthalten), das kann jeder sein, man kann jeden Namen einsetzen, also sind hier alle gemeint. Der unbekannte Soldat vertritt alle toten Soldaten. Die unbekannten (und unsichtbaren) Toten, in ihrem den belebten Ausstellungsräumen unheimlich benachbarten Jenseits, vertreten alle Toten.
Obamas Bild vom Heiligen Ort ist nicht nur religiös zu verstehen. Antike Stadtgründungen setzten immer mit einer Grenzziehung, einer Bestattung (von Ahnen oder Helden) und der Weihung eines heiligen 8unantastbaren) Gebietes ein. Ist es überzogen, zu vermuten, daß man den gesamten Prozess der Gedächtnisbildung nach dem Anschlag als eine Art Neugründung (im Sinne der Überwindung einer großen Bedrohung) versteht?


Museen markieren immer (manchmal kaum merklich, manchmal überdeterminiert und architektonisch-dekorativ aufwendig) die Grenze zwischen Außen und Innen, zwischen Stadt(raum) und Museum(sraum). Ich kenne das Innere des Pavillons, mit dem man das Museum betritt, aber er mag jene Aufgabe haben, die der Tempietto bei Hans Holleins Museum in Mönchengladbach hat: von hier aus beginnt ein Abstieg ins Reich des Erdinneren und –unteren. Auch beim New Yorker Museum steigt man in die Tiefe, sieben Stockwerke, etwa 21 Meter unter das Bodenniveau – nicht ganz unähnlich jenen mehrstöckigen Katakomben, die sich unter den ältesten Kirchen Roms tief in die Erde hinunter erstrecken. Das ist ein Reich, wo wir uns normalerweise nicht aufhalten, das den archäologischen Grabungen, also den Relikten der Toten und ihnen selbst lange Zeit exklusiv gewidmet war, ehe so etwas wie die Archäologie entstand, die diese von vielen Tabus umstellte Praxis durchbrach und umkehrte. Nun finden wir hier wiederum so etwas wie Grabbeigaben, Reste, Reliquien, ja – wiederum erinnere ich an die eingespielten Stimmen -, die Toten selbst. Die metaphorische Nähe von Museum und Mausoleum ist längst schon entdeckt, aber gibt es ein zweites Museum, wo die Durchkreuzung von beidem so eng und wirksam. Tote finden wir, ohne daß es uns in dieser Umgebung sonderlich auffallen muß, in Museen oft, in Naturmuseen, in historischen, in frühgeschichtlichen oder archäologischen. Nur, dort schützt uns eine große zeitliche Distanz, die körperlich erfahrbare und zudringliche Nähe des Todes auszuhalten (Museen sind Maschinerien der gefahrlosen Besichtigung). Während hier (namentlich die Hinterbliebenen, die Verwandten, dann aber, abgestuft, auch die Bewohner New Yorks, im Grunde jeder Amerikaner) eine lebensweltliche Erfahrung mitbringt, wie es sie in der historischen musealen Erfahrung normalerweise nicht geben kann.    
Das Museum scheint überwiegend eine memoriale Aufgabe und nicht so sehr eine dokumentarisch-informativee zu haben, wenngleich das eigentliche Ereignis, der Tag des Anschlags, offenbar penibel dokumentiert ist.[9] Wenn dieser Eindruck stimmt und man sich auf die Berichte der großen Tageszeitungen in diesem Punkt verlassen darf,[10] dann machte das auch Sinn, den politisch-historischen Kontext weitgehend auszusparen. Vordergründig geht es ja auch darum, die Täter und ihre Motive möglichst wegzublenden. Für viele Angehörige ist schon die sorgfältig abgewogene Präsenz im Museum unerträglich. Eine Historisierung des Ereignisses, wenn sie redlich vorgenommen würde, käme aber in Konflikt mit dem Konstrukt Opfer. Dann müssten Fragen ausgesprochen werden und Tatsachen berücksichtigt, die nicht nur zeitlich und räumlich über das New York des 11. September hinauswiesen, sondern kritische Fragen an die Nation, ihre Ziele, ihre Integrität, die US-Politik enthielte.[11]


Wessen Opfer sind die Toten? Die der Terroristen? Vordergründig ja, in einem kriminologischen Sinn. Aber in einem historisch-politischen Sinn? Die Erweiterung des Horizonts über die Tatsache des Anschlags hinaus müsste über wechselseitige Feindbilder und Ängste, über Bündnisse und politisch-militärische Strategien sprechen, von der hegemonialen ökonomischen Rolle der USA und von Vielem, was sich nicht so ohne weiteres in das Bild einfügen lässt, das die USA von sich selbst hat oder von sich zeigen möchte. Das Bild, das dann entstünde, wäre sehr komplex, notwendig fragmentarisch, höchst umstritten (schon dieses Museum und der ganze Gedächtnisort sind umstritten, unter verschiedenen Gesichtspunkten und unter Beteiligung unterschiedlicher Gruppen). Das überforderte schon unter durchschnittlichen Umständen unsere gängige Vorstellung von dem, was ein Museum leisten kann (ohne daß nicht gesagt ist, daß Museen durchaus äußerst konflikthaltige Stoffe aufgreifen könnten) und lag jedenfalls nicht innerhalb der konzeptuellen Reichweite und politischen Absicht der Auftraggeber des Museums. Es widerspräche einem Heiligen Ort, daß er zugleich einer der Relativierung seiner Botschaft und vor allem seiner Wirkung wäre.
Es gibt aber eine Seite der Profanierung, die wohl weniger mit Pietätlosigkeit zu tun hat, als mit der Notwendigkeit das Museum ohne staatliche Mittel zu finanzieren. US-Medien und auch Angehörige von Opfer kritisieren das Konsumistische des Museums, die Kritik am Shop ist ein Dauerbrenner der Medienberichterstattung, und haben dabei vor allem die Gadgets im Visier, die es im Museumsshop gibt.[12] Deutsche Journalisten betonen, wie touristisch das Museum sei.[13] Diesen Vorwurf kann ich nicht nachvollziehen. Sicher, wer immer will und nicht anders kann, wird sich einer voyeuristischen Perspektive auf die Geschehnisse und die gegenständlichen Zeugnisse ausliefern. Dem kommt das Museum selbstverständlich auch ohne jede Absicht auf Grund seiner Objekte entgegen. Aber seine Botschaft ist so klar an die Nation gerichtet und, angesichts der unverminderten Gegenwart des Ereignisses, für weite Teile der amerikanischen Bevölkerung auch ungebrochen aktuell. 9/11 ist ständig virulent, wird immer wieder aufgegriffen in höchst unterschiedlichen Formen. Da bedarf es nicht nur des Gedenktages und des Museums, im Gegenteil, es existierte schon längst eine, wie soll man sagen, tief in die Geschichtskultur der USA eingeprägte Spur des Ereignisses, die nun als Museum dauerhaft nachgezeichnet wird.
Knipsfreudige Touristen, die das Museum in die Tour der New Yorker Sehenswürdigkeiten aufnehmen, teilen nicht diese Gedächtniskultur (womit ihnen nicht die Fähigkeit zur emphatischen Teilhabeabgesprochen werden soll).
Ich teile auch eine zweite Kritik nicht, die der Vermengung von Museum und Gedenkstätte. Die Überlagerung zweier Funktionen, der memorialen und der musealen, die man problematisch findet, scheinen mir nicht so gewichtig und sie gegeneinander auszuspielen, nicht schlüssig. „Damit ist aber auch schon eines der größten Probleme dieses Gebäudes benannt: seine zwiespältige Bestimmung, ein historisches Museum für die politische Bildung, eine Begräbnisstätte und eine touristische Attraktion für Besucher aus aller Welt zu sein.“[14] Ähnliches gilt für so manch anderes historische Museum, namentlich für einige Jüdische Museen und das Museum ist – als Ort dauerhafter Erinnerung – in gewisser Weise immer mit dem Tod, dem ‚Nachleben’ der Toten und auch mit der Idee des Opfers kontaminiert. In der Geschichte des Museums hat es immer wieder Beispiele für die gewollte und inszenierte Überlagerung der beiden Funktionen gegeben.[15] Daß ein Horror-Tourismus die essentielle Bedeutung des 9/11 Museums völlig überlagert, das kann man doch nicht ernsthaft behaupten.
Man wird ja sehen, ob das Museum, neben oder vor den anderen berühmten und besuchten Museen New Yorks zur touristischen Attraktion wird oder zu einem bevorzugten Memorial-Ort der Amerikanischen Nation.[16]


[1] Die „Welt“ zitiert „heiliger Ort der Heilung“. 19.5.2014 (online) Fotostrecke
[2] Die Idee zur Form des Mahnmals stammt aus Daniel Libeskinds Masterplan für die Verbauung des Geländes und wurde von Michael Arad realsiert. Diese Gedenkstätte gilt auch den sechs Toten des Anschlags auf das WTC von 1993.
Zum Mahnmal gehört auch die Bepflanzung des Geländes. An ihr ist ein einzelner Birnbaum bemerkenswert, der stark beschädigt aus den Trümmern geborgen, versetzt, von der Städtischen Parkverwaltung gepflegt und dann als Survivor Tree, an dem man die Spuren der Katastrophe noch sehen kann, zurückverpflanzt.
[3] Die Museumsarchitektur stammt von Davis Brody Bond, LLP, der Eingangspavillon von der norwegischen Firma Snøhetta.
[4] Andrea Köhler spricht etwa ohne zu zögern von Reliquien. Andrea Köhler: Wem gehört die Erinnerung, in: NZZ 19.6.2012 (online)
[5] Konnte jemand von jenen Rettern, die immer wieder in das Gebäude zurückkehrten, um Personen zu helfen, ahnen oder sich eingestehen, daß er in Lebensgefahr war? Sicher. Aber Gewissheit und damit einen bewußt inKauf genommenen Tod, mag es das gegeben haben. Dann könnte man von Opfer sprechen. Obama erwähnte einen jungen Mann in seiner Rede, der immer und immer wieder in das Hochhaus zurückging, bis es über ihm zusammenbrach. Vgl.: 9/11 Museum eröffnet, in: Frankfurter Neue Freie Presse, 15.5.2014
[6]26 uniformed police officers and firefighters marched (am Tag der Öffnung für das allgemeine Publikum) onto the lawn of the memorial and unfurled an American flag that had flown at 90 West Street, adjacent to Ground Zero, for weeks after the attacks. Civilians involved in the restoration of the flag and children from the 9/12 Generation Project filled in among the honor guard designated to see the National 9/11 Flag safely back to Ground Zero. Grasping the edges, they raised the 36-foot by 26-foot flag as the Fire Department of New York’s Emerald Society Pipes and Drums Band played. (...) Over the course of two years, more than 30,000 people in all 50 states, all of whom are survivors of tragedies in the United States, from Pearl Harbor to Columbine to Joplin, have helped repair the flag.“ Anna Hiatt in: Washington Post, 21.5.2014 (online)
[7] Diese Zeile stammt von Vergil und auch daran hat sich eine Kontroverse entzündet, denn in einer philologischen Lesart wird sie auf den bei ihm gemeinten, mit dem Sinn, den sie im Museum hat, unvereinbaren Kontext bezogen. Ein homoerotisches trojanisches Freundes- und Heroenpaar vernichtet seine Feinde. Zu den Details s.: Andrea Köhler: Ohne Kontext. Grabspruch oder Menetekel?, in: NZZ 20.Mai 2014 (Online)
Dass es hier um transgenerationelle Dauer geht, also im Grunde um einen unabschließbaren gattungsgeschtlichen Zeitraum zeigt eine Formulierung in einem zweiten Wssay von Andrea Köhler: „Die auf Band festgehaltene Geräuschkulisse der sich entfaltenden Katastrophe sollen zu den Überlebenden genauso sprechen wie zu den Nachgeborenen, zu den nächsten Angehörigen ebenso wie zu Touristen.“ Andrea Köhler: Grab und Touristenattraktion, in: NZZ 15.5.2014 (online)
[8] New York Times zitiert nach: Andrea Köhler: Ohne Kontext. Grabspruch oder Menetekel?, in: NZZ 20.Mai 2014 (Online)
[9] Das auf der offiziellen Webseite des „9/11 Memorial“, dessen Teil das Museum ist, veröffentlichte Mission Statement: „The mission of the 9/11 Memorial Museum, located at the World Trade Center site, is to bear solemn witness to the terrorist attacks of September 11, 2001 and February 26, 1993. The Museum honors the nearly 3,000 victims of these attacks and all those who risked their lives to save others. It further recognizes the thousands who survived and all who demonstrated extraordinary compassion in the aftermath. Demonstrating the consequences of terrorism on individual lives and its impact on communities at the local, national, and international levels, the Museum attests to the triumph of human dignity over human depravity and affirms an unwavering commitment to the fundamental value of human life.“
[10] „Das Museum setzt auf Effekt statt Reflektion. (...) „Für Steve Kandell, dessen Schwester umkam, war der Besuch einer Vorschau am vergangenen Sonntag nur die Fortsetzung dessen, was er in den letzten Jahren erlebte.  „Der schlimmste Tag meines Lebens ist nun endgültig zur Touristenattraktion geworden“, sagt er.“ Sebastian Moll: 9/11 wird zur Touristenattraktion, in: Frankfurter Rundschau, 20.5.2014 (online)
[11] Der englischsprachige Wikipedia-Eintrag zum Museum ist bezüglich der Finanzierung, Planung, Errichtung und der Kontroversen um das Museum sehr genau. Er schweigt sich, bis auf die Zusammenfassung des offiziellen Mission statements komplett zum historischen Kontext und zur Funktion aus.

[12] Harsche Kritik am Shop insgesamt und an der Tatsache, daß es auch ein Restaurant und Cafe geben wird, kritisiert mit der beachtlichen Wortschöpfung „catharsis consumerism“ Anne Kingston im Blog Maclean’s.

Der zentrale Punkt der Kritik in der Öffentlichkeit ist die Aufbewahrung der Reste unidentifizierten Opfer im Museum. Und der Eintrittspreis von $24. Vgl. dazu: Patricia Cohen: 9/11 Museum Fees Don’t Faze Visitors, in New York Times, 22.5.2014 (online) sowie: Michael Remke: Geschäfte mit dem Grab, das „Ground Zero“ heißt, in: DIE WELT, 19.5.2014

http://www.nytimes.com/2014/05/23/arts/design/9-11-museum-fees-dont-faze-visitors.html?_r=0

http://www.welt.de/vermischtes/article128197318/Geschaefte-auf-dem-Grab-das-Ground-Zero-heisst.html

Allerdings erhält das von einer Stiftung getragene Museum keine staatliche Förderung und finanziert sich aus Eintrittsgeldern, privaten Zuwendungen und anderen Erlösen. Die Baukosten werden von der Stiftung mit 700 Millionen Dollar angegeben.

[13] Jordan Meijas fürchtet, daß das Museum zur „makabren Touristengaudi“ verkommt. In: F.A.Z. 15.5.2014
[14] Andrea Köhler: Grab und Touristenattraktion, in: NZZ 15.5.2014 (online)
Und dieselbe in einem Bereits 2012 erschienen Essay zum Memorial-Museum: „Ein Mahnmal ist dem Gedenken, ein Museum den Fakten verpflichtet. Mahnmale sollen Gefühle wecken, während Museen den Auftrag haben, Anschauungsmaterial und Zeugnisse zu präsentieren.“ Andrea Köhler: Wem gehört die Erinnerung, in: NZZ 19.6.2012 (online)
[15] Es gibt sowohl Beispiele für Museen, die im Interesse eines Gedenkens an eine individuelle Person errichtet wurden (man kann etwa an das Victoria and Albert Museum erinnern) oder einer oder mehrerer Personen direkt als Grablege dienten (ein frühes Beispiel findet sich wiederum in London, die Dulwich-Gallery mit ihrem Stiftergrab im Zentrum). Und es gibt zahllose militärhistorische oder Kriegs- und historische Museen, wo Objekte oder Objektensembles oder einschlägige Räume dem kollektiven Gedächtnis dienen. Dasselbe gilt ganz besonders für KZ-Gedenkstätten und, wenn es so etwas auf ihrem Gelände gibt, deren museale Räume.
Das erste Beispiel, das mir eingefallen ist, ist die Freskenausstattung des Alten Museums in Berlin, wo zwei Allegorien auf den nicht lange zurückliegenden Freiheitskrieg mit der Figur des Opfers „antworten“: Aufopferung für Andere bei gefahrvollem Naturereignis und Aufopferung für Andere in Abwehr menschlicher Rohheit.
[16] Am ersten Tag der Öffnung des Museums für die Allgemeinheit war das Museum im Voraus ausverkauft. Vgl.: Stephen Farrell: The 9/11 Museum opens to a Somber Crowd, in: New York Times, 21.5.2011 (online)

Samstag, 24. Mai 2014

"Das Haus der Europäischen Geschichte im Exil". Eine ungewöhnliche Ausstellung im Rahmen der Wiener Festwochen (Überarbeitete Fassung)


Elvis has just left the building
Frank Zappa

Nachdem ich die Kassa passiert habe, warte ich nun mit zwei anderen Besuchern in einem beklemmenden Raum darauf, aufgerufen zu werden. Eine Zählnummer habe ich schon. 503. Der Raum ist schäbig, typische Zimmerpflanzen eines Büros, gusseiserne Heizkörper, eine Landkarte mit den Staaten der Europäischen Union auf dem Stand von 2017, ein Orientierungsplan für das Museum, in einer unverständlichen Sprache beschriftet. Auf Österreichisch würde man einen solchen Raum als "grindig" bezeichnen. Allerdings gibt es bis heute solche Räume, Polizeiwachstuben, Wartezimmer auf Sozialämtern und selbst im Landeskrankenhaus meiner Stadt könnte ich solche Räume herzeigen.
So wie wir hier zu Dritt sitzen, in einem Raum mit einer Uhr, Türen, denen die Klinken fehlen, unter einem harten Neonlicht, ohne zu wissen wann und von wem wir aufgerufen werden, könnten wir auf eine medizinische Untersuchung warten, eine Befragung, eine Behördenvorladung.
Die verdreckte Eingangstür in den Ausstellungstrakt war schon ein Übergang in eine andre Sphäre und andere Zeit. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, daß es so schnell gehen kann mit dem Wechseln der Zeiten, Stimmungen. Der Übergang von der einen Welt zu einer ganz anderen ist oft kaum markiert, und umso drastischer fühlbar. Ich muß mich nur an die zwei- oder drei Mal erinnern, als ich den berüchtigten Grenzübergang der DDR Friedrichstraße durchqueren musste.
Eben noch im sonnigen, touristischen Wien, auf einem Thonetstuhl eines Cafes im Freien, gegenüber des Gebäudes, in dem die Ausstellung gezeigt wird, auf die Öffnung des riesigen Tores zur alten Postzentrale Mitten in Wien wartend, und dann plötzlich in einer kafkaesken, toten, zeitlosen Welt.
Wir werden einzeln aufgerufen, im Abstand von mehreren Minuten. Wir sollen einzeln losgehen, in der Ausstellung allein sein. Der erste Raum steigert die Unheimlichkeit - ein riesiger Saal, schäbig, vom Verfall gezeichnet wie alle folgenden Räume, nahezu leer und - fast vollkommen dunkel.
Keine Objekte, keine Geräusche, kein Text. Dann Räume vollgestopft mit Sperrmüll, offensichtlich Überbleibsel aus den Büros und Arbeitsräumen der Postzentrale. Dieses Zentrale ist ein riesiges, aus dem späten 19.Jahrhundert stammendes Verwaltungsgebäude, in dem es offenbar ganz unterschiedliche Funktionen gegeben haben muss. Büros, Archiv, Arbeitsräume, bei denen man kaum ahnt, was hier einmal vorgegangen ist. Die Wegführung entlang von Richtungspfeilen macht das Riesenhaus noch labyrinthischer, als es ohnehin schon ist. Treppen, verwinkelte Gänge, Lichthöfe mit riesigen blinden Fensterwänden, Gusseisenkonstruktionen, Reste von Armaturen.
Dann endlich ein Raum, der einem konventionellen Ausstellungsraum schon recht nahe kommt. Einige Objekte, ein viersprachiger Informationstext. Es geht um die Europäische Union. Die es nicht mehr gibt. Berichtet wird hier aus einer nicht allzufernen Zukunft, in einer "Nachzeit", nach dem Zerfall der EU. Nationalismus und Rechtsradikalismus, die wirtschaftliche Krise haben dem großen Projekt den Garaus gemacht.
Langsam verstehe ich, daß die teilweise unverständliche "Bebilderung" und Sprache der Texte, daß die trashigen, vollgeräumten oder dunklen Räume, einerseits eine Atmosphäre schaffen sollen, die das  Fiktive einer in der Zukunft spielenden Ausstellung unterstreicht. Und andrerseits den Zerfall der Strukturen - einer Welt, die wir ja besonders als "bürokratische" wahrgenommen haben -, visualisieren soll. Allerdings ist der Bruch, auch gestalterisch, zwischen den sorgfältig verfassten und sehr informativen Texten einerseits und den oft beliebig oder rätselhaft oder nicht entschlüsselbaren Objekten auffallend. Wo wir uns hier befinden, das ist eine "posthistorische" Trümmerwelt, in die nur noch wenige, wenig aussagekräftige Spuren des Gewesenenen hineinragen.
Vielleicht ist ja so eine Idee ja weniger gespenstisch, als wir spontan, mitten in dieser düsteren Ausstellungswelt wahrnehmen. Im Grunde kann man das Museum als einen im Vergegenwärtigen ständig vom Scheitern bedrohte "Nachwelt" verstehen, das es trotz seinem Beharren auf Wahrheit und Authentizität immer auch mit Fiktion, mit "Erzählung", also Konstruktion und Narration aus einem "Nachhinein" zu tun hat.
Der Ausstellungskurator dazu: "Wir haben keine Distanz zur Gegenwart. Daher wollte ich eine Distanz aufzubauen, um die Gegenwart anders zu sehen können. So bin ich auf die Idee eines fiktiven Museums gekommen, das nach der Implosion der EU als Einziges übrig bleibt."
Was weiter folgt im Rundgang, Wege, leere Räume und trashige Aussstellungsräume, entpuppt sich als ein chronologisch-thematischer Parcours mit informativen Texten, die die wesentlichen Entwicklungsetappen der EU nachzeichnen und schwer zuordenbaren Objekten mit oft recht bescheidener Aussagekraft. Ein Parcours, bei dem man nie vergisst, daß der historische Zeitpfeil umgedreht wurde. Wir blicken zurück, auf die Erfolge der EU, die mit spürbarem Wohlwollen dargestellt wird,  von ihren aus den Weltkriegserfahrungen geprägten Anfängen bis hin zur gemeinsamen Währung, auf ihre politische Struktur und Organisation (der Teil wirkte auf mich wie eine Vorbereitung auf die EU Wahl, die drei Tage nach meinem Besuch grade anstand), auf die großen, die Wirtschaft lenkenden Organisation, die Transformation vieler Diktaturen in Demokratien, die Entwicklung der Zahl der Mitgliedschaften, des Beitritts von immer mehr Ländern.
Die Ausstellungsräume haben jeweils ein Thema. Etwa die berüchtigten Verordnungen und Normierungen. Visualisiert wird das, wenig originell, mit bis zur Decke zwischen roten Vorhängen gestapelten Papier und - schon amüsanter -, mit einigen griffigen Beispielen, die wie eine Lehrmittelsammlung drapiert sind. Dann der Lobbyismus - eine der schönsten Ausstellungsideen. Wie eine Schmetterlingssammlung sind Visitenkarten von Lobbyisten ausgestellt und an der Wänd hängt eine Stadtkarte von Brüssel, in die die Lobbyorganisation wie sonst die Sehenswürdigkeiten eingezeichnet sind. und schließlich die problematischeren Gebrechen der EU: die Immigrationspolitik, die Duldung fast versklavter Niedriglohnarbeiter vor allem in der Landwirtschaft. Das Beispiel sind spanische Erntehelfer. Ein Nachbau eines ihrer Elendsquartiere steht mitten in einem Raum, zu dem eine roh durchbrochene Mauer führt und in dem wir uns auf einer Art Laufsteg aus Holz bewegen.
Der Text informiert über die Arbeitsbedingungen, die nicht weit weg sind, von den v.a. in Zusammenhang mit der Fussballweltmeisterschaft in Quatar kritisierten. (Nicht anders sind die etwa auf der Baustelle des Louvre Abu Dhabi oder des Guggenheim Museums ebenda).
Ab hier wird schon der definitive Niedergang eingeläutet: der polizeiliche Zwang, die Überwachung, nun nicht nur mehr nur der Einwanderer und Flüchtlinge, sondern der eigenen Staatsbürger, (freilich ohne schon reagiert zu haben auf das globale Ausmaß der Überwachung durch die USA) die 1970 in den USA beginnende Wirtschaftskrise, der expandierende Rechtsradikalismus, der grassierende Nationalismus, die Separationsbewegungen innerhalb der Nationalstaaten. Ganz am Schluß die Selbstmorde, die dem "Regisseur" dieser Ausstellung zufolge, nicht öffentlich berichtet würden, weil sie zu erschreckend wären.
Die Ausstellung sympathisiert durchaus mit der EU als einem großen Friedensprojekt und möchte angesichts der aktuellen Kriegsängste und -drohungen die Dramatik des politisch-historischen Moments sichtbar machen. Sie stell sich die Frage, was nach dem Zusammenbruch der Union geschähe. Gerade da bleibt die Schau aber phantasielos. Vielleicht kann sich auch wirklich niemand die ökonomischen und militärischen Katastrophen und Krisen ausmalen, die dem folgen würden. Und: würden sie das überhaupt? Ist der Ausstieg wirklich "alternativlos" geworden?
"Man sagt immer: "Nie wieder Krieg!" Das hoffe ich auch. Aber was wäre, wenn es wirklich wieder einen Krieg gäbe? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Krieg ist. Wir müssen über Krieg reden, um dafür zu sorgen, dass es keinen Krieg gibt. Das wollte ich mit dem Museum." (Thomas Bellink)
Wo ein offenes Ende, vielleicht mit verschiedenen Szenarien hätte stehen können, folgt nur noch ein wiederum ein, nun rabenschwarzer Raum, nur mit einer winzigen Luke etwas erhellt, dann ein riesiger Saal mit einer einsamen Bar und - vermutlich damit der Übergang zurück in die Wiener Wirklichkeit nicht zu hart ist -, der Weg durch großen trostlosen Hof des ehemaligen Amstgebäudes.
Ich verlasse das Gebäude, in der eben hinter mir die EU gewissermaßen die Geschichte verlassen hat. Der Eindruck bleibt zwiespältig. Die Botschaft ist klar und einfach, die Information beachtlich und interessant, aber die Gestaltung schwankt zwischen immersiver Emotionalisierung und trockener Textbelehrung, ohne daß beides miteinaander verwoben wäre und eine wirklich neuartige Qualität ergeben hätte.
Die spookyness mancher Räume, das Beklemmende der Atmosphäre verlassener, von Spuren des langsamen Verfalls gezeichneter Räume verbündet sich schlecht mit der intellektuell-informativen Ebene. Die Hauptaussage liegt schließlich doch überwiegend in den Texten und nur bedingt in der Atmosphäre.
Mir ist an Ausstellungen der jüngsten Zeit aufgefallen, daß das "Gestell", die "Zeigeapparaturen" immer provisorischer werden können, rohes oder billiges Holz, roh Gezimmertes, irgendwie Zusammengebasteltes, in Ausstellungen etwa in Graz oder Wien. Selbst die kostbare Asien-Sammlung des Museums für Angewandte Kunst wird jetzt in einem Verhau aus Ziegellatten gezeigt - allerdings hat das ein namhafter Künstler entworfen. So kommt die Nobilitierung, mit der es edles Ausstellungsgestalten zu tun hat, über die Hintertür wieder herein, wo es andernorts dem Museum Pathos und Aura nehmen will. Solch eine Senkung der Distinktionsschwelle braucht die EU-Ausstellung aber gar nicht, ihre Objekte brauchen sich weder als echt noch als authentisch zu gerieren.
Vielleicht bin ich relativ immun gegen das "Posthistorische" und ein wenig auch gegen das Beklemmende der Räume, weil ich schon so manches überzeugendere Besipiel gesehen habe. Kabakovs Installation tragen klar die Signatur eines bestimmbaren politisch-zeitlichen Kontextes und seiner Trostlosigkeit und Aussichtslosigkeit, während das Ephemere und Leichte eines Gebäudes wie dem "Palast der Projekte" mit dem witzigen und hoffnungsvollen Basteln an der Utopie kooperiert, die er dort in vielen Zimmerchen vorführt.
Die von Hans Hoffer gestaltete Ausstellung A.E.I.O.U. (eine Art österreichisch-patriotischer ideengeschichtlicher Leistungschau) in der aufgelassenen Tabakfabrik in Krems brachte die z.T. ruinenhaften Räume und Reste der Fabrikseinrichtung viel direkter ins Spiel. Ich erinnere mich an die wunderbare Idee, ein Gedicht von Erich Fried so in den Aufzugschacht zu applizieren, daß die Pointe kurz vor dem Aussteigen im obersten Stockwerk der Ausstellung schockartig aufblitzte. Und "verdorben" für die affektiven Anmutungen der Europaschau bin ich vor allem durch die Manifesta von 2008, die in ganz unglaublichen Industrie- und Verwaltungsbauten stattfand, in Bozen, in Trient (hier auch in einem aufgelassenen Postgebäude), Rovereto und in der Franzensfeste, einer kakanischen Betonburg gewaltigen Ausmasses (die nie einen Zweck erfüllte, nebenbei gesagt), und deren düstere und endlose Raumfolgen ingeniös mit Ton- und Videoinstallationen, Kino, Installationen, Objekten bespielt wurde.

Möglich, daß eine Kunstausstellung sich besser auf das Ortspezifische solcher "extimer Orte" einlassen kann, die ihre Wirkung ja schon daraus beziehen (wie beim Postgebäude in Wien), daß wir sie überhaupt betreten und so etwas wie "verbotenes" Terrain erforschen dürfen.
Aber darin liegt offensichtlich auch ein Potential für "historisches Ausstellen". Einen Tag, nachdem ich in der "Weltausstellungs"-Schau des Wien Museums gewesen war (die in deren cleanen Ausstellungsräumen stattfindet), dachte im beim Besuch dieser "Exil"-Ausstellung, warum das Wien-Museum, immer auf der Suche nach praktikablen Räumen, nicht solche Gebäude entdeckt? Vielleicht gibt es praktische Gründe, wie Sicherheitsbestimmungen oder anderes.
Meiner Phantasie wachsen jedenfalls Fühler, wenn ich so einen Ort sehe, den ich gerne rabiater, riskanter bespielt gesehen hätte - aber wer "schenkt" mir dieses Spukhaus, damit ich mal meine Ideen von der Leine lassen kann?
Jetzt, wo ich mir den Text noch einmal vorgenommen habe, und nach einem Austausch mit einer Kollegin über unsere unterschiedlichen Erfahrungen mit der Ausstellung überarbeite, ist auch eine Zeit des "danach". Gestern ging die EU-weite Wahl zu Ende, mit erschreckenden Zuwächsen rechter und rechtsextremer Parteien. Daß in Frankreich, einem Land mit einer derart kraftvollen politischen Geschichte voller Kampf um eine demokratische und republikanische Gesellschaft eine rechte Partei triumphal siegt, ist verstörend und alarmierend. Hat also die Ausstellung schon "recht behalten". Ich hoffe nicht. Aber sie ist deutlich wichtiger geworden.


Thomas Bellinck, der Kurator der Ausstellung, ist tatsächlich Regisseur, er ist Flame, in Brüssel 1983 geboren. Seine Ausstellung wurde erstmals in Brüssel gezeigt, 2013.

Sein "Museum" ist bis 15. 6. in der Postgasse 10 zu sehen. Geöffnet ab 15 Uhr. Anmeldung notwendig!  Unter +43 664 22 589 47. Letzter Einlass 18:30. Geöffnet bis 20 Uhr.

Die Interviwpassagen finden sich hier: Thomas Bellinck: "Auch nationale Identitäten sind Konstruktionen" Interview |

Zitronenpresse "Merkel" (Objet trouvée)

Ausstellung "Haus der Europäischen Geschichte im Exil". Ehemalige Postzentrale. Wiener Festwochen 2014