Samstag, 11. Juni 2011

Tracht und Niedertracht

Ich frage mich manchmal, warum es eine sich Wissenschaft nennende Trachtenforschung noch immer gibt, die sich weitgehend der Einsicht in das Konstruierte und Modische der Tracht entzieht, warum Tracht als Teil der Kleidungsforschung noch immer dermaßen museal populär ist als Dokumentation eines vermeintlich Authentischen, das eine ursprüngliche Ordnung der Lebenswelt zu repräsentieren vermag.
Unter dem Titel "Tracht und Niedertracht" hat der als Filmkritiker bekannte Georg Seeßlen eine rabiate Polemik gegen die - wievielte eigentlich? - Trachtenbewegung als "semiotische Blüte" des zerfallenden Mittelstandes verfasst. (TAZ vom 8.6.2011, hier).
Tracht tragen, sagt Seeßlen, ist noch immer nicht unschuldig, es war es nie, wie bei den 'Heimatvertriebenen' und ist es auch jetzt nicht: "Jede Haube, jede Tasche, jeder Knopf entsprach einst einer ständischen Gesellschaft, und bei diesem textilen Reenactement einer 'guten alten Zeit' schwingt eben immer auch die Sehnsucht nach einer vormodernen, vordemokratischen und voraufgeklärten Gesellschaft mit."
Die neueste deutsche Trachtenkonjunktur als "Outlet-Tracht" ist nicht bloß rückwärtsgewandt, "sondern (eine) verschärfte Form gerade der karrieristisch-überaffirmativen Jugend, die sich zum Motor des Neoliberalismus machte und die Spannung zwischen Aufstiegslust und Abstiegsangst kaum aushalten konnte."
Der "verjodelte und reprovinzialisierte deutsche Mittelstand" braucht Anlässe sich zeigen zu können, Volksfeste, Eröffnung von Mehrzweckhallen, das "Mega-Stadtl-Hotel" oder, den wichtigsten von allen, das Oktoberfest, wo sich das "Tragen von Trachten insbesondere bei jungen Leuten in den sogenannten nuller Jahren als Bekenntnis zur hedonistisch gemäßigten Rechten" durchsetzte - "(die ganz echten Nazis tragen dann wieder so etwas nicht, weil es dann doch nicht gesamt- und großdeutsch genug und auch zu unmilitärisch ist)".
Dabei werden zwei Facetten der Ökonomie sichtbar: "Der Verlust der Heimat durch die gnadenlose Ökonomie wird von der neuen schlafstädtisch/ländlichen Mittelklasse durch eine gnadenlose Ökonomisierung der Heimat beantwortet" und: "Das Dirndl, in mehr oder weniger frei wählbarer Abstufung, ist eine akzeptierte Art, das Obszöne mit dem Ordentlichen zu verbunden. Dirndl und Lederhose konstruieren und rekonstruieren Männlichkeit und Weiblichkeit auf sehr spezifische Weise."
Der Zerfall einer sozialen Gruppe macht das Trachtentragen zum Schauplatz einer Ambivalenz: "Die Mitglieder dieser neuen Klasse des deutschen Volkstümlichkeitskleinbürgers sind insofern ein klitzekleines soziales Problem, weil die Sphäre zwischen 'Gut drauf sein' und Amoklaufen ausgesprochen knapp bemessen ist. Denn die Spannung zwischen Aufstiegslust und Abstiegsangst ist offensichtlich nur durch besonders rasche Wechsel von Regression und Aggression abzubauen."

1 Kommentar:

  1. ich nehme an,daß das gros der kunsthistoriker oder realienhistoriker die verschränkung der erscheinungsformen mit dem politisch ökonomischen (20/21jhdt)noch nicht erkennen wollen,können und sich nichtwertend in der wärmestube der enzyklopädie lieber aufhalten.
    danke für ihren link-hinweis!

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