Montag, 13. September 2010

Anschauung / Geschichtserfahrung / Heimat

Für den Schulunterricht bestimmtes Relief Kärntens. Handwerksmuseum Baldramsdorf
In Leutkirch gibt es ein normales Heimatmuseum mit ein bißchen Stadtgeschichte, Zunftgeschichte, Handwerksgeschichte, einigen Uhren und Webstühlen, Spinnrädern und Bauernschränken, die die Räume füllen und die einem fremden Besucher aus Tübingen nicht unbedingt die Augen öffnen. Im Vorraum steht ein Landschaftsmodell, wohl aus Gips gefertigt, das so tut, als sei die naturräumliche Gliederung im Zeitalter der Raketen und des Kunstdüngers noch immer von wesentlichem Belang. Dieses Modell zeigt Leutkirch wahrend der Eiszeit. Das vom Staub schon etwas grau gewordene Packeis liegt auf der oberschwäbischen Kleinstadt wie ein meterdicker Panzer, der sichtbar jedes Leben erfriert. Die alte Dame, die das Museum betreut, nutzte jedoch dann die Möglichkeit, durch einen einfachen Mechanismus das ganze Eis auf einen Schlag - bildlich gesprochen - abzutauen, und nur noch zwei winzige Ösen erinnerten nach diesem schöpfungsähnlichen Eingriff an die einstige Kälte; das Gipseis verschwand unter dem Modell, oben grünten die Weiden und fand die Argen ihr geschwungenes Bett, so einladend, daß die Vorfahren der Leutkircher natürlich hier und an keinem anderen Ort ihre Zelte - oder was immer sie hatten - aufschlagen mußten.
Auf der Glasplatte der Vitrine liegt ein Artikel zum Geoplasten P. Oberlercher
 Seitdem ist für mich diese Handlung identisch mit longue duree, ich habe das zwar bei Fernand Braudel auch verstanden, aber daß eine historische Theorie ein Bild finden kann, das als Metapher für große historische Prozesse und insgeheim sogar für metaphysische Eingriffe steht, das verdanke ich dieser Frau .
Es ist also eine Anekdote, die mich lehrte, daß natürlich mein historisches Wissen sehr viel mehr Anekdotisches als Plötzgenaues enthält und daß es neben der historischen Theorie einen zweiten Strang gibt, der die Daten untergründig zusammenhält und der, obwohl er keinen Anspruch auf wissenschaftliche Rationalität erheben darf, für mich nicht weniger Halt gibt als der öffentlich abgesicherte, den ich in Büchern lerne und in den Seminaren lehre: es ist die Fähigkeit der Sinne und Gefühle, solche Dinge festzuhalten und miteinander zu verbinden, die nach den Regeln der Kausalität nicht immer zusammen gehören, sondern sich eher wie Fontanes Stechlin durch tiefe dunkle Röhrensysteme miteinander austauschen.

Text von Utz Jeggle: Subjektive Heimat - objektive Musealität. Zum Verhältnis von subjektiver Erlebnisfähigkeit und objektiven Ereignissen, Heimat im Museum, Koblenz 1984, S.11ff.  

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